Heimkehr
Martin D. Zimmermann

Zehn Jahre waren seit der Tat vergangen, als ich in meine Heimatstadt zurückkehrte. Zehn Jahre in denen ich, wie ein Fuchs auf der Flucht, ohne Rast und Ruhe durch die halbe Welt geflohen war. Zehn Jahre gepeinigt von Gewissensbissen und Misstrauen. Nirgendwo hatte ich mich sicher gefühlt, blutverschmierte Leichen ließen mich fast jede Nacht aus dem Schlaf schrecken.
Heimkehr-Collage     Nun hatte mich das Heimweh gepackt. Das Heimweh nach jener Stadt in der ich aufgewachsen und zur Schule gegangen war, jener Stadt in der ich als zufriedener, ehrbarer Bürger gelebt hatte. Bis zu jener unglücklichen Sommernacht.
     Ich konnte mich an die Vorgänge jener Nacht nicht mehr so genau erinnern. Ich wusste, dass ich mich besoffen hatte. Dann muss es zu einer Schlägerei gekommen sein, jedenfalls erwachte ich mit einem Messer in der Hand neben einer Leiche.
     Ich kannte diesen Menschen nicht und ich konnte mich nicht erinnern, ihm jemals begegnet zu sein, doch meine Kleidung war blutverschmiert und es bestand kein Zweifel, dass ich dieses Leben auf meinem Gewissen hatte. Panik war in mir ausgebrochen. Ich hatte, ohne meine schlafende Freundin zu wecken, hastig meine Sachen gepackt und war in Richtung Grenze gefahren. Kurz nach der Grenze ging mir das Benzin aus und ich ließ den Wagen stehen. Als Schwarzfahrer, Tramper, und Wanderer schlug ich mich zur Küste durch. Wie durch ein Wunder blieb meine Flucht unbemerkt. Ich heuerte als Matrose auf einem Fischtrawler an und verließ ihn in einem mittelamerikanischen Hafen wieder. Ich schlug mich zehn Jahre lang in fast zwei Dutzend Ländern mit fast zwei Dutzend Jobs durch. Ich blieb nirgendwo lange, hatte nie Geld, keine Freunde, hungerte, bettelte, schlief unter Brücken.
     Nun hatte ich das Weglaufen satt. Ich wollte die Heimat wiedersehen. Ich wollte wissen, was aus meinen Freunden geworden war. Es war eine paradoxe Situation, man durfte mich nicht erkennen, aber ich wollte trotzdem alles wiedersehen, was mir einmal etwas bedeutet hatte.
     Ich hatte mich verändert. Ich war ein Mann Ende zwanzig mit Bauchansatz gewesen, ständig gut gekleidet und rasiert und als magerer Bettler mit langen Haaren und Vollbart kehrte ich zurück. Dennoch hatte ich Angst, dass mich jemand erkennen könnte. Zur Sicherheit setzte ich eine Sonnenbrille auf.
     Ich ging an meiner alten Schule vorbei zu meiner alten Wohnung an der jetzt natürlich ein anderer Name stand. Im Vorgarten wuchsen jetzt Stiefmütterchen und Geranienkästen standen auf den Fenstersimsen. Vom alten Kirschbaum, unter dem ich im Sommer gelegen hatte, war nur noch ein vermoderter Stumpf zu sehen.
     Ich ging auf den Friedhof zum Grab meiner Mutter. Ich erschrak: auf dem Grabstein stand auch der Name meines Vaters. Er war zwei Monate nach meiner Flucht gestorben. Ich verließ den Friedhof und ging zu der Kneipe in der jener verhängnisvolle Vorfall geschehen war. Sie gehörte jetzt einem Griechen. Ich verspürte einen Drang hineinzugehen.
     Ich erschrak, als ich meinen Namen hörte. Das erste Mal seit zehn Jahren. Ich fröstelte, obwohl es schwül war. Ich wollte wegrennen, aber meine Beine verweigerten den Gehorsam. »Lauf jetzt nicht weg«, erkannte ich die Stimme eines alten Freundes, »zehn Jahre haben wir dich gesucht, um dir zu sagen, dass du unschuldig bist«. Er erzählte mir, dass der Mann durch einen Schlag auf den Kopf getötet worden war. Der Täter war gefasst worden und hatte tags darauf gestanden. Zehn Jahre meines Lebens war ich vor einem Phantom geflohen.

© 1999 by Martin D. Zimmermann. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.


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