Der Trink-Liedermacher
von Thorsten Sylla

GitarreSie nennen ihn den »Grauen Klaus«. Jeden Samstag platziert er sich inmitten der Fußgängerzone auf Höhe des Schiller-Platzes, packt seine Gitarre aus und gibt Folk-Songs zum Besten, die aus seiner eigenen Feder stammen. Klaus König mag es, vor Leuten aufzutreten. Er liebt es, ihre irritierten Gesichter zu verfolgen, wenn sie an ihm, dem Barden, vorüberziehen. Klaus sitzt auf einem Campingstuhl, hat einen kleinen Koffer aufgestellt, in den die Passanten, so sie mögen, Münzen aller Art werfen können, um somit seiner Kompositionskunst zu huldigen. Unter der Woche arbeitet Klaus im Arbeitsamt. Da bekommt er eine Menge Elend mit. Tag für Tag. Desillusionierte Menschen auf der Suche nach Arbeit, aber auch desillusionierte Personen, die gar nicht nach Arbeit suchen, sich aber trotzdem regelmäßig dort zu melden haben.
    
Am heutigen Samstag sind die Geschäfte in der Stadt gut besucht. Die Sonne scheint, der Himmel ist von prächtigem Blau und die Leute, das weiß Klaus aus jahrelanger Erfahrung, sind an solchen Tagen immer sehr spendierfreudig und gut gelaunt. Klaus haut in die Saiten seiner Akustikklampfe und seine brummige Stimme erschallt über den Schiller-Platz: »Das waren die Tage, an denen alles gut war. Die Flüsse waren sauber, die Luft war noch so rein. Es war die Zeit der großen Freude, wann wird es wieder so weit sein?«, oder aber: »Tante Anne, die war so nett, schickte uns nie früh zu Bett, ließ uns machen, was wir wollen, ließ uns lang im Bett rumtollen. Das waren tolle Jahre, uhhh... ja... sehr tolle Tage.«
     Klaus bezeichnet seine Texte stets als nicht aufgesetzt und doch durchgängig sozialkritisch. Sein Vater, ein alter KPD-Anhänger, habe ihm das in die Wiege gelegt, entschuldigt sich Klaus oft achselzuckend. Die Leute, die ihn kennen, die ihn schätzen, gaben ihm schon vor Jahren den Beinamen »Grauer Klaus«, da sie hofften, ihn damit ein wenig provozieren zu können, ihm damit leichtere Texte und Inhalte entlocken zu können. Doch Klaus ist seinem Stil stets treu geblieben. Er ließ sich nie verbiegen. Klaus bedankt sich bei ein paar wenigen Passanten, die sich die Zeit nehmen, seinen Songs ein wenig Aufmerksamkeit zu schenken, kündigt einen neuen Song an, greift den ersten Akkord und singt: »Ja, der Teufel Alkohol, er hat den Mensch gesteuert und hatte dieser Mensch doch grad beteuert: Eure Sucht, die kriegt mich nicht, ich bin hier, ich bin das Licht, kann trinken, wo und wann ich will. Ich hab es doch im Griff. Doch seine Frau, das arme Wesen, holt jeden Abend ihn vom Tresen und in ihren Armen dann, fängt der Mann zu weinen an, erzählt von früher, wie es war, als alles noch so einfach war, als ihn die Sucht noch nicht gepackt, als er noch nicht so elend nackt.«
     »Hey, du. Gitarrenmann, was singst du da eigentlich für einen Quatsch!«
     Ein adretter Mittvierziger bahnt sich einen Weg zu Klaus und baut sich vor ihm auf. Dieser hört auf zu spielen und schaut den Fremden verständnislos an.
     »Wieso Quatsch? Wenn Sie meine Songs nicht mögen. Kein Problem. Ich glaube nicht, dass Sie irgendwer daran hindern würde, einfach weiter zu gehen. Dürfte ich nun wohl bitte meinen Song zu Ende spielen? Wie Sie sehen, stehen hier durchaus ein paar Leute, die meine Lieder interessant finden und hören wollen.«
     »Ja, das ist unglaublich, dass sich jemand diesen Quatsch hier anhören will, wirklich! «
     Der Unbekannte dreht sich den ausharrenden Passanten zu: »Könnt ihr das wirklich ernst nehmen, was der Typ hier verzapft? Ihr macht euch doch nur lustig über ihn, oder?«
     Die Leute schauen verschämt zu Boden, nach rechts und links, bleiben stumm.
     »Hm, nun, keine Antwort ist auch eine.«
     Der liberale Klaus ist bemüht, seine Fassung zu bewahren. Ruhig schaut er den Kritiker an und spricht bedacht: »Natürlich kann es nicht möglich sein, dass jeder, der hier vorbei geht, meine Songs mag. Aber man muss ja nicht zuhören, keiner wird dazu gezwungen. Wissen Sie, ich mache das hier schon seit vielen Jahren. Beinahe jeden Samstag stehe ich hier, spiele meine Lieder und singe. Und es gibt auch immer ein paar Menschen, denen das gefällt. Aber so etwas wie Sie habe ich noch nicht erlebt. Was soll das eigentlich?«
     »Na, dann wird es aber wirklich mal Zeit, dass so etwas geschieht. Was bilden Sie sich eigentlich ein? Sind Sie ein Trink-Liedermacher oder was? Ich gehe in die Stadt, die Sonne scheint und es geht mir gut. Ich bin im Begriff, da hinten im Supermarkt noch etwas Milch zu besorgen. Da komme ich hier vorbei und höre, wie jemand einfach so, mir nichts, dir nichts, irgendwelche schlauen Texte über den Alkoholkonsum, nein, sogar noch schlimmer, die Alkoholsucht, von sich gibt. Ich denke: Das gibt es doch nicht. Und, nun, ich habe es gehört. Ich bin durch Sie genötigt worden, es hören zu müssen. Wie hätte ich dem denn entgehen können? Hätte ich vorhin, als ich aus dem Haus ging, denken müssen: Ach, du gehst ja in die Stadt! Vergiss bloß nicht die Ohrenschützer mitzunehmen! Das kann es doch wohl nicht sein! Oder wie?«
     Provozierend schaut der Mann in die Runde der stetig anwachsenden Menschenmenge, die dem Disput aufmerksam lauscht.
     »Und dann hab ich es gehört, ihr Lied, im Vorbeigehen. Und da ging es rein in mein Ohr, dieser Mist. Und dann kann ich das nicht einfach ignorieren und weitergehen. Das geht doch nicht! Das ist doch meine Pflicht, mich zu äußern.«
     »Ihnen gefällt der Text wohl nicht, wie?«, möchte Klaus erfahren. Der Mann lacht: »Nicht gefallen? Nicht gefallen? Nein, er gefällt mir nicht! Er strotzt vor Arroganz gegenüber suchtkranken Menschen. Er sprüht vor Unwissenheit und aufgesetzter Moral. La, la, la, die Sucht die ist ja da, und sie ist schlecht, und macht alles kaputt. La, la, la. Wissen Sie eigentlich, was Sie da tun? Sie verhöhnen die Seelen armer Menschen. Sie machen sich lustig über sie. Ist Ihnen das klar?«
     Klaus ist verdutzt. »So ein Quatsch. Ich fasse hier ein heißes Eisen an mit diesem Lied. Ich will auf das Problem aufmerksam machen. Alkohol sorgt für so viele Schäden in der Gesellschaft, in den Familien. Das muss auch mal öffentlich gesungen werden. Als ein Warnsignal, verstehen Sie?«
     »Ja, ja, ich verstehe schon. Sie haben keine Ahnung. Sie wissen nichts über Sucht. Die Menschen sind Ihnen egal. Interessieren Sie nicht. Sie befriedigen sich an Ihrer traurigen, längst überholten Sozialromantik. Wissen Sie was? Wenn ich so eine Scheiße höre, keimt in mir der Wunsch, in die nächste Kneipe zu gehen und zu trinken. Das löst es aus in mir!«
     Der Mann geht. Er muss noch Milch kaufen. Im Weggehen kann er hören, wie die Passanten ihm zurufen und klatschen. Der »Graue Klaus« wird seinen Text noch einmal überarbeiten müssen.

© 2003 by Thorsten Sylla. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

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