Candy Push, Part 1
von Martin Clewing

Drei viertel Fünf. Matt schleicht er durch die Straßen der schlafenden Stadt. Niemand da, der ihm Beachtung schenkt. Eigentlich überhaupt niemand da. Er ist froh über die Stille der nächtlichen Großstadt. Zwölf Stunden im Taxi können eine verdammt lange Zeit sein, wenn man das letzte Piece schon nach dem ersten Kunden verbraten hat.
Woher kommen die abgefuckten Kreaturen der nächtlichen Großstadt wenn der Mond der großen Beleuchterin den Rang streitig macht, wohin verschwinden sie, wenn sie wenn die Morgendämmerung beginnt, in die dunklen Ecken zu kriechen? Es gibt sie tatsächlich, die Freaks wie aus den Infotainment-Shows im Kabelfernsehen. Nur sind es nie die hübsch aufgemachten Poser, die dort vorgeführt werden. Im Halbdunkel, das Gesicht abgewendet, die Stimme verzerrt. Oder auch im strahlenden Studiolicht, ausgestellt wie in einem Museum über zeitgenössische Perversion. Der Gedanke gefiel ihm. Zu ihrer linken sehen sie einen kurzen Clip, der die populärsten Perversionen der ausgehenden 90er-Jahre des 20ten Jahrhunderts in Großbildern, Stereoton und Zeitlupe detailliert und kommentiert von Troy MClure zeigt. Nein, sie sind es nicht. Einige wären es gerne. Aber sie sind nur die schlecht bezahlten Marionetten der Besitzer, die den Hunger der Meute zu stillen versuchen, heute ein Kinderficker, morgen stecken sie ihre Penisse in Hackfleisch. Nein, die wahren Creatures meiden das Tageslicht. Sie ergießen ihre Ergüsse im Schutz der Dunkelheit. Moral braucht Tageslicht. Im Dunkeln ist sogar Gott blind. Tagsüber mag der Meister und Erschaffer ja den Saft haben, aber jetzt?
Seine Füße schleppen ihn mechanisch in seine Straße. Plötzlich steht er vor ihm: Der Baum, an dem er sonst einfach vorbeigeht, fest verwurzelt und verdammt, den Tauben eine Raststätte zu bieten auf ihrer Mission, die Stadt einzuscheißen, steht plötzlich direkt vor ihm. Da steht er, fest auf seiner Hundescheiße-Sammelinsel. Er tritt an den Baum heran. Streckt eine Hand zärtlich nach der schmutzigen Rinde aus. Die Borke ist rau und trocken unter seiner Berührung. Er schließt die Augen. Er schafft seine eigene Dunkelheit tief im Innern. Es gibt nur noch ihn und den Baum. Keine Kreaturen. Keine Menschen. Nichts. Nur ihn und den Baum im Vakuum des mächtigen Geistes. Freude durchströmt ihn. Er lässt seine Energie durch den Baum fließen. Der Baum ist einfach da. Zusammen schweben sie durch ein Universum, in dem außer ihnen nie irgendeine Lebensform je existieren wird. Der Schmerz seiner Seele konzentriert sich, erhebt sich, lässt sich ab von ihm, strömt durch seine Hände in die Rinde des Baumes. Er weint vor Freude. Er fühlt sich erleichtert wie lange nicht mehr. Er steht befreit am Baum, das Gesicht in den Armen verborgen, wie ein Kind beim Verstecken Spielen - oder ein Baumficker ... 99, 100, ich komme! Er hätte für immer dort gestanden, oder zumindest fast. Aber das Geräusch eines langsamer werdenden Autos reißt ihn aus seinem seelischen Orgasmus. Neben ihm hält ein Wagen. Er öffnet seine Augen. Bullen. Was sonst. Sie steigen aus. Zwei echte Bullen. Keine wirklichen Gesichter.
Nur zwei lebendig gewordene Uniformen.
Sie wollen seinen Ausweis sehen.
Personenkontrolle.
"Was machen sie hier, Herr Reinermann?"
"Ich wohne hier."
Fragende Gesichter. Auch die Uniformen sind schon ziemlich zerknittert. "Ich habe 12 Stunden lang gearbeitet, bin gerade hier angekommen und habe mich einfach gefreut, dass der Baum da ist."
Die Uniformen blicken sich an. Sie bekommen Gesichter. Das eine ertrinkt in mittelklassischer Ignoranz, das andere wehrt sich gegen irgendeine Erkenntnis. Es verliert.
"Ich habe auch schon seit 9 Stunden Dienst und will das gar nicht verstehen."
Sie schauen sich an, irgendetwas geht ab zwischen ihnen, checken ab, was sie tun sollen. Schließlich geben ihm seinen Ausweis zurück, lassen von ihm ab und verschwinden wieder. Nur ein weiterer Spinner im Sumpf der Stadt. Vergessen bevor der nächste Kaffee genommen wird.
Aber für ihn war alles anders. Er spürte, dass etwas passieren würde. Dass etwas passieren musste. Irgendwie musste er versuchen, seine Umgebung auf sich einzustellen, sein Leben zu formen, anstatt sich selbst formen zu lassen. Diese gebückte Egohaltung aufrichten. Die Zeit war Reif für seinen großen Auftritt auf der schwer zu besteigenden Bühne der Gebieter. Er verabschiedete sich still von den Fesseln, die man ihm mit der Zeit angelegt hatte. Nichts würde mehr sein wie bisher. Er war bereit, kompromisslos einzusteigen. Einzusteigen in das große Abenteuer Rock 'n' Roll.



© 1997 by Martin Clewing. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.


ZurückSeitenanfangWeiter