Peter Jüde: Der Antiquar

Engel lebte mit seinen Büchern. Die Leute im Dorf konnten sich nicht mehr an die Zeit erinnern, als es den alten Antiquar und seinen Laden nicht gegeben hatte. Ständig sortierte Engel seine Bücher um. Er ordnete sie nach Sprachen, nach Farben, alphabetisch nach Titel oder nach Dicke. In diesem Monat war er dabei, eine Ordnung nach der Höhe der Bücher herzustellen. Bei seiner Arbeit redete er mit den Büchern. Er begrüßte ein Buch, wenn er es aus dem Regal nahm und tröstete es, wenn er glaubte, dass das Buch nun einen schlechteren Platz bekommen würde. Nur eine alte Buchrolle, die zwischen zwei dicken Büchern, eingeklemmt lag, behielt immer ihren Platz. So vertrieb er sich die Zeit. Seit Jahren schon hatte niemand aus dem Dorf seinen Laden betreten. Nur sehr selten kam einmal ein Fremder herein, der den Laden eilig wieder verließ, wenn er hörte, wie Engel mit den Büchern sprach. Die Leute mieden Engel. Wenn er einmal in der Woche mit dem Fahrrad durch das Dorf zum Supermarkt fuhr, ignorierten ihn die Menschen. Niemand wusste, von wem er Geld bekam, um sich sein Brot, Milch, etwas Wurst und Käse und ab und zu eine Tafel Schokolade zu kaufen. Engel hielt sich bis auf die Ausflüge zum Supermarkt immer in seinem Laden auf. Die Leute lästerten, dass er seine Bücher bewache, damit er nur ja keins verkaufen müsse. Aber sie ließen ihn in Ruhe.

An einem kalten Tag kurz nach Weihnachten kam Engel von seinem Einkauf zurück und sah einen Mann zusammengekrümmt vor einem Regal liegen. Engel wusste sofort, dass er tot war. Er stellte seine Einkaufstasche ab und ging, so schnell er konnte, auf das Regal zu. Als er die Lücke in der Reihe der Buchrücken sah, wusste er, was geschehen war: Die Buchrolle war verschwunden! Er schlug die Hände vor das Gesicht und stöhnte:
     »Herr, vergib mir, ich habe versagt.«

In diesem Moment klingelte die Türglocke und ein Fremder betrat den Laden. Erschrocken starrte er auf Engel und den Mann am Boden, dann stürzte er wieder hinaus. Keine fünf Minuten später hörte Engel ein Martinshorn, Reifen quietschten und zwei Männer in roten Jacken liefen herein. Sie grüßten knapp, hockten sich neben den Mann und untersuchten ihn. Einer der Männer stand auf, sah Engel an:
     »Der ist tot, da ist nichts mehr zu machen.«
     Der Arzt tuschelte mit dem anderen Mann. Engel hörte nur:
     »...etwas merkwürdig ... starke Schwellungen links und rechts über der Stirn, … nicht die Todesursache ... außerdem hast du den Fuß gesehen?«
     Zu Engel gewandt sagte er:
     »Tut mir Leid, aber einfach so kann ich den Totenschein nicht ausstellen, ich muss die Mordkommission rufen, die müssen klären, was hier los ist.«
     Engel schwieg. Der Arzt zückte sein Handy und führte ein kurzes Gespräch.

Eine halbe Stunde später stürmte ein Trupp Polizisten in den Laden.
     »Peters, Hauptkommissar Peters, Mordkommission«, stellte sich einer der Männer vor.
     »Sie haben einen Toten hier?«
     Engel nickte. Die ganze Zeit hatte er sich nicht vom Fleck gerührt. Peters wandte sich an den Arzt:
     »Und, können Sie schon etwas sagen?«
     Der Arzt zuckte mit den Schultern:
     »Sieht nach Herzinfarkt aus, aber ich bin mir nicht sicher wegen der Schwellungen am Kopf. Ihr solltet mal gucken, ob Ihr was findet. Obduziert ihn, dann wisst ihr mehr.«
     »Okay«, Peters nickte zwei Männern zu. »Dann raus mit ihm.«
     Die Männer luden den Toten auf eine Bahre und verließen den Laden, ohne ein Wort zu sagen.
     »Das war der erst Akt. Jetzt sind die Jungs von der Spurensicherung dran«, sagte Peters zu Engel, der weiter reglos dastand.
     »Da sind ja unsere Spezialisten schon«, rief Peters. »Während die ihre Arbeit machen, müssen Sie hier raus«, sagte er zu Engel. Mit sanfter Gewalt schob Peters den Antiquar nach draußen, folgte ihm und schloss die Tür. Peters öffnete die Beifahrertür des Polizeiwagens: »Setzen Sie sich, im Auto ist es warm«. Als Engel Platz genommen hatte, warf Peters die Tür zu, ging um den Wagen herum und setzte sich auf den Fahrersitz.

Nach einer Stunde kamen die Männer der Spurensicherung aus dem Laden und erstatteten Peters durch das geöffnete Wagenfenster Bericht:
     »Es ist nichts zu entdecken, kein Blut, immer nur die gleichen Fingerabdrücke, wahrscheinlich von dem Alten, sonst gar nichts. Einzige Ausnahme: Auf der Rückseite des Regals, vor dem der Tote lag, haben wir sieben sehr merkwürdige Plättchen gefunden. Keine Ahnung, was das ist.«
     Da sagte Engel: »Das sind Siegel, Buchsiegel, um Buchrollen zu verschließen.«
     »Aha, und wo kommen die her?«, fragte Peters
      Leise begann Engel zu sprechen:
      »Ich sah eine Buchrolle in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß. Sie war innen und außen beschrieben und mit sieben Siegeln verschlossen. Und ich sah einen mächtigen Engel, der mit lauter Stimme fragte: Wer ist würdig, die Siegel aufzubrechen und das Buch zu öffnen? Aber man fand keinen, der es öffnen und hineinsehen konnte, weder im Himmel, noch auf der Erde, noch unter der Erde.«
     Engel sah Peters an:
     »Und w issen Sie, was dann passiert ist? Das geschlachtete Lamm, Jesus Christus, hat das Buch von Gott, dem Schöpfer, erhalten, um die sieben Siegel zu lösen, damit das jüngste Gericht über uns kommt. Wer es in seinem Besitz hat und die Siegel brechen kann, darf über die Menschen richten. Jesus Christus hat dieses Recht, weil Er sich für uns geopfert hat. Sonst niemand.«
     Engel schwieg, dann sprach er so leise weiter, dass ihn die Männer durch das geöffnete Wagenfenster nur schwer verstehen konnten:
     »Ich war der Wächter, ich sollte die Buchrolle bewachen, bis ER über uns richtet. Aber jetzt hat ein Unwürdiger versucht, sie in seinen Besitz zu bringen und die Siegel zu lösen. Das Buch hat den Angreifer, einen Gesandten Satans, getötet. Es hat sich dabei selbst zerstört und aufgelöst. Das Lamm kann die Siegel nicht mehr lösen. Das jüngste Gericht wird nicht kommen, das Böse in den Menschen wird nie gerichtet werden, es kann sich ausbreiten, es wird keine Befreiung geben von der Willkür des Bösen.«
     Engel starrte vor sich hin.

Die Männer sahen sich schweigend an. Einer musste sich das Lachen verkneifen. Peters rettete die Situation:
     »Ja, Engel, das ist alles nicht so einfach für Sie. Sie stehen unter Schock, morgen sieht die Welt schon wieder anders aus. Das wird schon wieder. Vermutlich haben Sie vergessen den Laden abzuschließen, als Sie einkaufen gefahren sind. Der Mann hat den Laden betreten und hat einen Herzinfarkt erlitten. Pech.«
     Peters stieg aus dem Wagen aus und ging zu seinem Assistenten:
     »Gucken Sie morgen doch noch mal bei dem Alten vorbei. Der dreht uns noch durch. Wenn’s nicht anders geht, kümmern Sie sich drum, dass er erst mal irgendwo unterkommt.«
     Peters ging wieder auf den Wagen zu, stoppte dann aber und rief dem Assistenten zu:
     »Das Gefasel von dem Buch mit den sieben Siegeln hört sich nach Bibel an. Prüfen Sie mal der Vollständigkeit halber, ob uns das noch irgendwas Neues bringt.«
     Dann lief Peters zum Wagen, öffnete die Beifahrertür und bat Engel auszusteigen:
     »Wir haben hier jetzt nichts mehr zu tun. Machen Sie es gut. Mein Mitarbeiter sieht morgen mal nach Ihnen«.

Dann rückten die Polizisten ab. Engel sah den Polizeiwagen nach. Er ging langsam auf den Laden zu, öffnete die Tür und ging zum Telefon. Er hob den Hörer ab und wählte eine lange Nummer. Am nächsten Tag stand Engels Laden leer. Im Schaufenster hing ein Schild »zu vermieten«.

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