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Kindheitserinnerungen
von Anne Hagelstein

Anlässlich eines Kaffeekränzchens mit einer Gruppe Gleichgesinnter wanderte mein Blick über die Kuchentafel. Etwas berührte mich, meine Vergangenheit hatte mich eingeholt.
Da lag er. Genau wie damals lenkte er die Aufmerksamkeit auf sich.
Im norddeutschen Raum bezeichneten wir diesen Kuchen als Wandsbeker Speck. Bekannt ist er auch als Kekskuchen, kalter Hund oder in abgewandelter Form als Igel.
Vor fünfzig Jahren, es war mein zehnter Geburtstag, war der Igel der Star des Tages. Die Geburtstagsrunde bestand aus zehn Kindern. Meine Mutter hatte ein besonders großes Exemplar hergestellt. Mitten auf dem runden, weißbedeckten Tisch lag er -, umsäumt von zehn roten Kerzen. Sein halbkugelförmiger Körper war dicht gespickt mit Mandelsplittern. Beeindruckend war seine spitze Schnauze. Kleine Knopfaugen fixierten uns. Ein Zaun von roten Himbeer-, grünen Lindenblätterbonbons und Lakritzen aller Art grenzten Mutters Kunstwerk ein und versetzten den Igel in einen Blütengarten. Der Raum war erfüllt vom Duft des Himbeersaftes.
Wir durchbrachen zunächst die rotgrünschwarze Lakritz-Bonbonmauer. Wir malten uns rote Lippen und rosige Wangen, grüne Lidschatten und schwarze Augenbrauen, ehe wir die Bonbons, geschrumpft durch das Lutschen und Malen, in den Mund steckten. Wir sahen wie Clowns aus und unser Gesicht klebte von der süßen Masse. Mit den flachen Lindenblätterbonbons und Salmiakpastillen schufen wir kleine Bilder, die wir auf unseren Handrücken klebten. Eifrig schleckten wir, bis sie verschwanden und unsere Zungen grün, himbeerrot oder schwarz waren.

Durch die Wärme des Kerzenlichts hatte unser Freund auf dem Tisch einen Teil seiner Schönheit eingebüßt.

Um an das Allerbeste zu gelangen, machten wir uns zunächst an die Stacheln. Mit Hilfe der Kuchengabeln stocherten wir ungeduldig auf seinem dicken Leib, der aus purer, schon etwas weicher Schokoladenmasse bestand. Bald gruben wir mit unseren Fingern im Schokoladenleib. Zum Vorschein kam der marmorierte Kekskörper. Nach der süßen schwarz-weiß-rot-grünen Verführung war das jetzt der nächste Leckerbissen. Er schmeckte so köstlich, daß wir zum Essen alle zehn Finger zur Hilfe nahmen und die Spuren im Gesicht nicht zu übersehen waren. Aus den Clowngesichtern wurden Mohrenköpfe. Übrig blieben nur einige Krümel Kekse.

Unser Übermut war so grenzenlos, daß wir uns gegenseitig die Dekoration ableckten.

Am Ende des Tages sang und tanzte in der guten Stube eine muntere Schar von Mohren.

© by Anne Hagelstein. Für die Rechtschreibung sind die Autoren verantwortlich.

 
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