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Süße Sünde
von Christine Scholtyssek

Der schwarze Teller war überdimensional groß. Einige willkürlich verteilte dunkle Johannisbeeren versuchten, die Leere zu vertuschen und den Blick des Betrachters auf die Mitte der Einöde zu lenken. Dort prangte ein kleiner dunkelbrauner Berg. Wie ein Venushügel, dachte er sich, fasziniert vom Anblick der leicht zitternden Wölbung.
Er bückte sich über den Teller und atmete tief die zarten Düfte ein: Vanille, eine Prise Zimt, ein Hauch von Muskat - und über allem der betörende, bittersüße Duft der Schokolade, der ihm fast den Verstand raubte. Wie in Trance griff er nach dem zierlichen Löffel und schob ihn ganz langsam unter eine der glänzenden Beeren. Den dunklen Knospen von Brüsten gleich schienen sie sich ihm entgegen zu wölben, schrieen danach, in seinen Mund eintauchen zu dürfen. Er hob sie hoch, führte sie an seine Lippen. Er öffnete den Mund nur einen winzigen Spalt - nur soweit, dass die Beere gerade eben darin verschwinden konnte, an den Lippen vorbeistreifend. Ganz vorsichtig hielt er die kostbare Perle zwischen seinen Zähnen gefangen und umspielte ihre glatte Oberfläche mit der Zungenspitze. Behutsam verstärkte er seinen Druck und spürte, wie sich ein kleiner Riss in der seidigen Haut bildete. Ein unglaublich süßer, aromatischer Tropfen ergoss sich auf seine Zunge und ließ ihn erschauern.
Als er sich davon erholt hatte, strich er ganz sacht mit der Wölbung des silbernen Löffels über die zarte Oberfläche des braunen Venushügels. Wie ein Windhauch, der die Oberfläche eines Sees erzittern lässt, versetzte er das Objekt seiner Begierde in Schwingung, ließ es im Takt seiner eigenen Lust erbeben. Voller Hingabe betrachtete er die Rückseite des Löffels, auf der sich schimmernde braune Spuren gebildet hatten. Langsam und doch innerlich aufgewühlt führte er ihn zum Mund und ließ ihn mit unendlichem Genuss über die Schwelle seiner Lippen gleiten. Die Geschmack explodierte auf seiner Zunge und raubte ihm einen Moment den Atem. Und dann konnte er nicht mehr an sich halten. Wie ein Verdurstender, der nach einer Wüstendurchquerung in einen klaren Fluss springt, tauchte er den Löffel ein ums andere Mal in die cremige Masse, zerpflügte sie, verschlang sie. Erst als auch die letzte Spur der Weichheit vergangen war, ließ er den Löffel erschöpft auf den viel zu großen Teller fallen.
„Das war schon sein drittes Schokoladenfondant,“ raunte der faszinierte Kellner einem Kollegen zu, „und er verlangt immer noch nach mehr!“

© by Christine Scholtyssek. Für die Rechtschreibung sind die Autoren verantwortlich.

 
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