Ingeborg Jaiser empfiehlt

»Weiberroman«
von Matthias Politycki

Inzwischen dürfte es sogar der Brunnenwirt bemerkt haben: da hat einer über sein Lokal geschrieben, einer mit unaussprechlichem Namen, ein Fremder auch noch, ein Reingeschmeckter. Der hat die illustre Stammkundschaft genauso unerbärmlich festgehalten wie die Höhepunkte der Speisekarte und die Plastikblümchendekoration an der verräucherten Kneipendecke.
     Matthias Politycki, gebürtiger Karlsruher, ehemaliger Stipendiat im Stuttgarter Schriftstellerhaus, von der »Zeit« großzügig zum Erfinder der »78-Generation« ernannt, muss seine Notizen klammheimlich gemacht haben - und das nicht nur im Ländle.
Brunnenwirt/Lomo von Lothar Schmidt     Gregor Schattschneider, sein weiberbesessener Protagonist, ein liebenswerter Verlierer mit Strumpfhosen-Trauma und Schnüffel-Manie, stolpert etwas unbeholfen durch ein Leben, das eher von Orten und Frauen beherrscht wird als von seinen eigenen Willen. Über 400 Seiten (inklusive zahlreicher erheiternder Anmerkungen, die dem Buch augenzwinkernd den Anschein einer historisch-kritischen Ausgabe verleihen) erstreckt sich ein ausufernder Entwicklungsroman, der gar keine Fortschritte zeigt. Zwischen der Adoleszenz im westfälischen Ibbenbüren über der feuchtfröhlichen Studienzeit in Wien bis hin zum Abgesang in Stuttgart hat sich Schattschneider nur wenig verändert. Er ist der 17-jährigen Zahnspangenträgerin Kristina genauso blind verfallen wie der lasziven Wienerin Tanja oder der unnahbaren Stewardess Katarina, die so unstandesgemäß mit ihm in der Stuttgarter Kanalstraße haust.
     Polityckis gnadenlose Beobachtungen treffen haarscharf den Zeitgeist - vor allem den der vergangenen Siebziger, mit Clogs, Schlaghosen und Quizmaster Kulenkampff. Nur wer die eigene Pickelzeit noch in Erinnerung hat, kann nachfühlen, wie ruinös etwa die falsche Jeansmarke für das instabile Teenie-Ego sein kann, wie katastrophal das Hereinplatzen der Eltern, während man mit dem neuen Cassettenrekorder »Locomotive Breath« aufzunehmen versucht.
     Zugleich zeigt sich der Autor als Meister des Lokalkolorits: Ortsbeschreibungen, Namen, Dialekte wirken nie aufgesetzt, sondern exakt getroffen. Schattschneiders Touren zwischen Kanalstraße, Rotlichtdistrikt und der Metzgerei »Wild« in der Schulstraße könnten Schritt für Schritt nachgegangen werden, Meter für Meter. Und am Ende kehrt man immer wieder gern zum Brunnenwirt zurück.

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