Buchtipps in Kürze (18)

Amok

Mit erschreckender Regelmäßigkeit hören wir von diesen »Familientragödien« in den Medien: Ein Mann bringt Frau und Kinder um und richtet sich dann häufig selbst. Die Öffentlichkeit ist fassungslos vor so viel Grausamkeit, und die Boulevardblätter berichten meist von Nachbarn, die den Täter als unauffällig und freundlich schildern. Doch fast nie erfahren wir die Geschichte der Tragödie ganz.
     Emmanuel Carrère ist in seiner literarischen Reportage »Amok« einem solchen Fall nachgegangen, der sich 1993 in einem französischen Dorf an der Schweizer Grenze zugetragen hat. Ein Vater zweier Kinder, erfolgreicher Arzt bei der Genfer Weltgesundheitsorganisation, beliebt und geschätzt bei Freunden und Bekannten, tötet seine Frau, seine beiden Kinder und seine Eltern, bevor er in seiner Wohnung Feuer legt. Die Freunde sind fassungslos. Die Tat scheint unbegreiflich. Doch sehr bald wird klar, dass das erfolgreiche Leben eine Lüge war. Eine Lüge, die der Täter, der selbst den Wohnhausbrand schwer verletzt überlebt, über fünfzehn Jahre lang gelebt hatte. Seine engsten Freunde und seine Familie ahnten nicht, dass sein ganzen Leben erfunden war, ja dass sich dahinter nicht mal eine wildromantische Spionagetätigkeit oder kriminelle Laufbahn verbarg, sondern buchstäblich nichts.
     Carrère schildert das Leben dieses Mannes mit einer klaren und präzisen Sprache, die an Erich Hackl erinnert, immer mit Distanz, aber nicht gefühllos. Gerade das geht unter die Haut, macht das erlogene Leben nachvollziehbarer, wenngleich weder Autor noch Leser nie ganz begreifen werden, wie alles passieren konnte.
     Der Autor geht auch der interessanten Frage nach, ob der Täter so etwas wie Mitleid verdient, und auch hier muss sich der Leser sein eigenes Urteil bilden, denn die Geschichte bleibt unfassbar und ist gerade daher so erschreckend.

Wolfgang Tischer

Emmanuel Carrère; Irmengard Gabler (Übersetzung): Amok. Taschenbuch. 2003. FISCHER Taschenbuch. ISBN/EAN: 9783596156900

Buch

Gestalte dein eigenes Schicksal

»Das zweiteilige Buch (…) untersucht Mythen und setzt Märchen ein, um allgemein gültige Wahrheiten des Menschen zu finden. Die Märchen sind in der Tradition von C. G. Jung, dem Gründer der analytischen Psychologie, verwurzelt.« So hat angeblich ein Dr. Th. Thornton aus New York dieses Buch beurteilt.
     C. G. Jung kann nichts für dieses Buch. Und ich gestehe: Ich habe nicht einmal das erste »Märchen« ganz gelesen, das »Hallo! Mein Name ist Isda, ich bin eine Fee.« beginnt und »Die Fee (Die Maske der Vorstellungsängste)« betitelt ist. Der Untertitel ist Programm, und der Autorin kann ich nur raten, dieses Programm an sich selbst durchzuführen, denn ihren inhaltlich-sprachlichen Ausscheidungen fehlt es an jeder Vorstellungskraft: so massiv schnüren die Vorstellungsängste wohl ein!
     Ihre flugfähige Fee lebt in einem ihr selbst völlig unbekannten Haus auf einer Blumenwiese, findet das Leben stinklangweilig; die Blumenwiese wird von einem Wassergraben in exakt fünfzig Metern Abstand umflossen (richtig: nicht das Wasser fließt, sondern der Graben…), wobei die Frage ist, wie dieses Fließen im Kreis oder Quadrat - das wissen wir nicht - wohl bewirkt wird? Soll das das Märchenhafte sein? Der Graben ist sehr tief und sehr breit, und statt in die Luft zu fliegen und sich einen Überblick zu verschaffen, sucht sie per pedes heimlich nach einer Brücke oder einem Steg, »der es ihr ermöglicht, auf die andere Seite zu kommen.«
     Meiner Treu: für eine höchstens daumenlange Fee ist das wahrlich eine jahrzehntefüllende Aufgabe. Da hat Langeweile doch gar keine Chance?! Und man stelle sich vor, Isda fände tatsächlich einen Steg, der nicht, wie es sich für gesunde Stege gehört, im Graben endet, sondern märchenhaft-magisch brückengleich sich über den Graben schwingt: Das wäre doch eine Sensation ohnegleichen und Belohnung genug für alle die dümmlichen Mühen?
     Angst hat die Fee, auf die andere Seite zu fliegen, denn erstens haben »die Erwachsenen« ihr schon verboten, zum Ufer zu gehen (ein unsinniges Verbot dieser Mitbewohner ihres unergründlichen Hauses, denn Wassergräben haben so etwas nicht), zweitens haben sie ihr verboten, den Graben zu überschreiten (noch ein unsinniges Verbot, schließlich ist Isda nicht Jesus), und drittens befürchtet sie, ihre Kräfte würden nicht reichen, auf die andere Seite zu fliegen (selbst schuld, warum läuft sie auch immer zu Fuß, ja sie klettert sogar Sträucher hoch statt wusch! hinauf zu fliegen, wie es sich für eine Fee aus echtem Schrot und Korn gehört!) Das hat nichts mit Angst zu tun, sondern mit Dummheit.
     Genug davon: Es sollten eigentlich keine Märchen geschrieben werden (deswegen gibt auch kein einziges), sondern das Buch will in dem zweiten lebenswichtigen Teil den Beweis antreten, dass wir »die wiedererwachten Göttermenschen« sind, und zwar in einer unglaublich verquasten Sammlung von so genannten allgemein gültigen Lebensweisheiten aus aller Herren Religionen.
     Das Buch ist ein Müllhalde unverdauter Ideen, und Nike Soler hat mit ihrem Buch schlagend bewiesen, dass diese uralte Göttermenschen-These ausgemachter Humbug ist. Ein nachgerade grandioses Eigentor!
     PS: Wie gelangt ein solches Buch eigentlich in den Druck? Also: wenn ich Verleger wäre, ich würde von Autoren dieses Kalibers fettes Schmerzensgeld dafür verlangen, so etwas drucken zu müssen! Schließlich hat selbst der Setzer ungestraft seine Späßchen getrieben. Zum Beispiel hat er Smilies, Blümchen, weiße Zahlen in schwarzem Kreis usw. anstelle von Spiegelstrichen verwendet - und ganz am Ende setzt er in einer Reihe Yin-Yang-Spiegelzeichen ein einziges kursiv: Eine genialisch-kurze Kommentierung der Schräglage dieses Textes.

Malte Bremer

NIKE Soler: "Gestalte dein eigenes Schicksal". Die schöpferische Macht, die wir über unser Leben haben (Fouqué Literaturverlag). Taschenbuch. 2000. Fouqué Literaturverlag. ISBN/EAN: 9783826746291. 13,70 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

Buch

Nackt

Der Icherzähler beschreibt in Episoden seine Kindheit, Jugend und sein frühes Erwachsenenalter. Das Motto könnte lauten »alles, was schief gehen kann, geht schief«. Seine Erlebnisse schildert er mit viel Sinn für Situationskomik und bringt die Leser zum Lachen. Aber diese Geschichten berühren auch unser Herz, weil sie an ähnliches selbst Erlebtes erinnern oder wir Mitgefühl für diesen Tollpatsch empfinden.

Elisabeth Heim

David Sedaris; Harry Rowohlt (Übersetzung); Georg Deggerich (Übersetzung): Gute Nackt-Geschichten: Alle Geschichten aus "Naked" und "Ich ein Tag sprechen hübsch" (Gerd Haffmans bei Zweitausendeins). Gebundene Ausgabe. 2017. Zweitausendeins. ISBN/EAN: 9783861505600. 16,95 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
David Sedaris: Nackt: Aus d. Amerikan. v. Harry Rowohlt. Gebundene Ausgabe. 1999. Haffmans Verlag. ISBN/EAN: 9783251004317
David Sedaris; Harry Rowohlt (Übersetzung): Fuselfieber / Nackt. Doppelband. Gebundene Ausgabe. 1999. Zweitausendeins. ISBN/EAN: 9783861503842
David Sedaris: Nackt. Taschenbuch. 2000. Diana. ISBN/EAN: 9783453171503

Buch

Gefährliche Geliebte

Hierum gab es, wie wir ja alle wissen, enorm viel Wirbel beim Kritikerpapst und seinem Gefolge. Warum? habe ich mich gefragt, das Buch gekauft, bin damit in den Urlaub gefahren und habe es gelesen.
     Schon im Flugzeug interessierte mich nichts mehr außer meinem Buch. Ich habe lange, sehr lange kein Buch mehr gelesen von solch sprachlicher Schönheit. Zum Beispiel: »Das Gefühl, ihre Hand zu halten, hat mich nie wieder verlassen. Es war anders als bei jeder anderen Hand, die ich je gehalten hatte, anders als bei jeder Berührung, die ich je erlebt habe.« Dies ist der Tenor, der sich durch die Geschichte zieht. Die Suche nach der Frau, die dies Gefühl bei einem Knaben ausgelöst hat, dass er es auch als Mann nicht vergessen kann. Gut, man kann über die sehr direkten Passagen der sexuellen Erlebnisse des Protagonisten unterschiedlicher Meinung sein. Nicht herausgelöst aus dem Text erscheinen sie eigentlich völlig normal in der Geschichte, nur mutig ausgesprochen.
     Alles in allem ein tolles Buch, das von Sehnsucht erzählt. Einer Sehnsucht, die eigentlich keine Erfüllung vertragen kann. Nach ein paar Stunden im Himmel der Gefühle kehrt der Protagonist geläutert und gestärkt in den Alltag zurück, wo ihn eine Liebe erwartet, die ihm nicht die Sinne raubt. Eine Liebe, mit der man leben und alt werden kann. Ich sage nur, ein Lesegenuss!

Paola Reinhardt

Haruki Murakami; Giovanni Bandini: Gefährliche Geliebte. Brigitte-Edition Band 14. Gebundene Ausgabe. 2006. Gruner + Jahr. ISBN/EAN: 9783570195352
Haruki Murakami; Giovanni Bandini (Übersetzung); Ditte Bandini (Übersetzung): Gefährliche Geliebte: Roman. Taschenbuch. 2002. btb. ISBN/EAN: 9783442727957. 10,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

Buch

Unter Schlangen

Das Ende letzten Jahres erschienene Buch »Unter Schlangen« von Jeremy Seal ist ein ideales Buch sowohl für Schlangenfreaks als auch für Schlangenhasser. Seal reist auf den Spuren vier giftiger Schlangen durch vier Erdteile und beschreibt mit viel Humor und sprachlicher Brillanz seine Erlebnisse. Neben den Schlangen begegnen dem Leser immer wieder mehr oder weniger kuriose Mitmenschen und viele Anekdoten, Histörchen und wahre Begebenheiten zum Thema.
     Das Buch liest sich sehr flüssig, ist aber trotzdem nicht zu banal und sehr informativ. Es lohnt sich auf jeden Fall.

Katalin Williams

Jeremy Seal; Reinhard Kaiser (Übersetzung): Unter Schlangen: Bericht eines Besessenen. Gebundene Ausgabe. 2000. Eichborn. ISBN/EAN: 9783821808420. 22,90 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

Der Liebeswunsch

In diesem packenden und spannenden Roman werden in sehr lebensechter Manier die Geschichte und das Psychogramm zweier Paare beschrieben.
     Die Handlung dreht sich um Paul, einen Chirurgen, Marlene, Ärztin und seine Frau. Dann gibt es Leonhard, einen angesehenen Richter und zuletzt die Studentin Anja. Letztere stößt zu dem Dreiergespann als jüngste und unreifste Person. Leonhard heiratet Anja nach kurzer Bekanntschaft. Die Heirat ist für ihn eine Verlegenheitslösung aus enttäuschter Liebe und männlichen Versagensängsten. Auch für Anja ist sie eine Lösung aus einer ratlosen inneren Verfassung, da sie keine rechten Lebensperspektiven für sich hat. Damit scheint das Scheitern dieser Ehe geradezu vorprogrammiert. Der Leser beginnt zu begreifen, dass alle vier Personen in diesem Freundschaftsbund sich mit einem Leben eingerichtet haben, das nicht so harmonisch und ungetrübt ist, wie es den Anschein hat.
     Leonhards Leben und damit auch das Zusammenleben mit Anja wird von Prinzipien geleitet. Bei der als labil und orientierungslos beschriebenen jungen Frau setzt sich eine tiefe Aversion und Ablehnung ihrem Mann gegenüber fest, den sie als unsensibel und bestimmend erlebt. Paul hingegen, der Mann von Marlene, ist ein freundlicher, sinnenfroher Mensch, der um Marlenes willen seine erste Frau und zwei Kinder verlassen hat. Marlene ist stark. Wie sich herausstellt, hatte sie früher den etwas drögen und mit wenig Sexappeal ausgestatteten Leonhard Pauls wegen verlassen.
     Ein wirres Geflecht von Beziehungen untereinander tut sich auf. Jeder hat seinen eigenen, ausgeprägten Charakter. Wünsche, die jeder an den anderen hat, und Vorstellungen, die jeder vom anderen hat, vermischen sich mit den Selbstbildern eines jeden. So geraten alle immer mehr in eine Selbsttäuschung hinein, die ein Entkommen aus den vorprogrammierten Enttäuschungen unmöglich macht.
     Alle vier scheinen mit dem Leben einigermaßen zurechtzukommen, bis quasi stellvertretend für die anderen Anja alles aufbricht durch ihren unersättlichen Liebeswunsch, mit dem sie Paul sexuell verführt und sich in einer länger dauernden Affäre mit ihm verbindet. Ihr labiler Charakter, mit dem sie immerhin zu einem bestimmten Zeitpunkt die fest genormten Spielregeln der Freundschaft durchbricht, gibt dem ganzen Beziehungsgeflecht einen Stoß mit ungeahnten Folgen.
     Hervorragend im Stil und mit viel Verständnis beschreibt Dieter Wellershoff langsam sich steigernd die Spannungen, die unter der glatten Oberfläche schwelen, mit der die Beteiligten einander begegnen. Mit subtilen Feinheiten werden Charakteristiken skizziert, die den Leser immer wieder verblüffen. Teile des Romans wirken in der Icherzählform einzelner Protagonisten biografisch, dann wieder scheint ein außenstehender Betrachter die Geschichte zu erzählen. Wir erleben in diesem Buch eine Analyse zwischenmenschlicher Verstörungen und Störungen, wie sie in vielen Paarbeziehungen zu finden sind. Es ist ein faszinierendes Buch, spannend und ganz nah an der Realität. Man könnte sich das Buch sehr gut verfilmt vorstellen.

Claudine Borries

Dieter Wellershoff: Der Liebeswunsch: Roman. Taschenbuch. 2002. btb Verlag. ISBN/EAN: 9783442728268. 10,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

Buch

Brautbriefe Zelle 92

Als die Briefe, die der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer aus der Zuchthauszelle an seine Verlobte Maria von Wedemeyer schrieb, zum ersten Mal herausgegeben wurden, sprach die Kritik von einer Sensation. Das war im Jahr 1992. Der Band »Brautbriefe Zelle 92« bildete die Grundlage für einen Film über die letzten Monate im Leben Dietrich Bonhoeffers, der in Amerika gedreht wurde und bald in unsere Kinos kommen wird.
     Diese Beziehung wird - obwohl es keine Brautzeit gab, sondern nur die bekannten Briefe zwischen den Brautleuten - wohl in diesem Film eine große Rolle spielen. Wahrscheinlich wird diese Akzentsetzung allen, die sich mit Leben und Werk Bonhoeffers befassten, einen Schauder des Unbehagens über den Rücken jagen.
     Dennoch: Die Lektüre ist, nicht zuletzt unter einem geschlechtsspezifischen Blick, sehr bewegend. Und natürlich bewegt die Tragik der Entwicklungen, die bekannt sind, zumindest was Dietrich Bonhoeffer betrifft. Maria von Wedemeyers Geschichte ist erst im Zusammenhang mit diesen Briefen deutlicher erhellt worden, und sie ist bemerkenswert.
     Dabei war diese Liebesgeschichte eigentlich gar keine: Die achtzehnjährige ostpreußische Gutsbesitzertochter lernte Bonhoeffer im Jahr 1942 kennen. Sie, die alle, die sie kannten, als eine charaktervolle junge Schönheit schildern, erschien dem Mittdreißiger wie die Erfüllung all seiner Wünsche, als er ihr im Hause ihrer Großmutter in Finkenwalde begegnete. Sie schien ihm stilvoll und lebensvoll zugleich. Die Verlobung war ein Balanceakt - eigentlich sollten die Versprochenen für ein Jahr eine Kontaktsperre einhalten, weil Marias Mutter ihre Tochter für zu jung hielt. Anzunehmen ist auch, dass sie von Bonhoeffers Widerstandsaktivitäten zumindest ahnte und deshalb in Sorge war. Dazwischen kam im Jahr 1943 die Verhaftung.
     Maria von Wedemeyer hatte zu Beginn dieser Verlobung in ihr Tagebuch geschrieben: »Das Innerste und Eigentliche steht fest - auch ohne Liebe für ihn. Aber ich weiß, dass ich ihn lieben werde«. Auch Bonhoeffer selbst hatte neben seiner Faszination für Maria den Wunsch, eine repräsentative Partnerschaft für die Welt zu leben. Ein wenig kommt Thomas Manns Wort vom »strengen Glück« in den Sinn, das er über seine Verbindung mit Katia Pringsheim prägte. Thomas Mann hatte andere Gründe als Bonhoeffer für ein solches Lebenskonzept, aber beide Verbindungen sind entstanden aus Neigung und mit dem Gedanken, dem eigenen Lebensziel und der Familientradition Angemessenes zu tun, der eigenen Existenz einen Rahmen zu schaffen.
     Die Verhaftung Bonhoeffers zwang den beiden Brautleuten eine Vertrautheit auf, die im alltäglichen Umgang nicht entstanden war und in dieser von Familien- und Traditionsbewusstsein geprägten Umgebung auch so schnell gar nicht entstehen sollte. In dieser Atmosphäre mussten die Briefe - die auch noch von fremden Augen kontrolliert wurden - tiefe Verschiedenheiten überbrücken, Nähe herstellen. Sie sind ein Balanceakt im Schatten des Todes. Das gelingt Bonhoeffer viel besser, er ist es gewohnt sich auszudrücken, Nuancen zu setzen. Maria hat es schwerer und manchmal spürt man ihren Briefen die Anstrengung an.
     Es ist Bonhoeffers Furcht, sie könnte sich anders besinnen, sie könnte ihm in Ungeduld oder Verzweiflung abhanden kommen, die auch seine Sprache ändert. Die Furcht davor jedoch versteckt er hinter »Gottes Willen«, und schon wegen dieser Briefstelle lohnt sich die Lektüre. Sie sagt alles darüber aus, wie ein Mensch fleht und bittet, dabei aber trotzdem die Regeln setzen will, um die eigene ohnmächtige Furcht vor dem Verlassenwerden zu kontrollieren. Nachdem er ihr vorstellt, wie wichtig es sei, zu ihm zu reisen, und fragt: »...spürst du hinter dem allem, dass es mir um unsere Ehe, allein darum geht? Wir dürfen uns nicht uns selbst und unseren Gefühlen überlassen. Daran gehen wir zugrunde.« Und dann: »Die Zeit darf uns einfach nicht zu lang werden. Es gibt über Gottes Willen und unsere Unterwerfung unter ihn einfach keine Diskussion. Ich will gewiss nicht bemitleidet sein, so wenig, wie du es willst, aber ich will, dass du mit mir wartest und geduldig bist, je länger es dauert, desto mehr«.
     Niemand könnte sagen, was aus dieser Beziehung geworden wäre. Von Bonhoeffers Tod erfuhr Maria von Wedemeyer erst nach dem Krieg. Sie studierte Mathematik, heiratete mehrmals, hatte Kinder, ging nach Amerika, war sehr erfolgreich in ihrem Beruf. 1977 starb sie an Krebs. Sie war eine höchst eigenständige und faszinierende Frau, sagen alle, die mit ihr Kontakt hatten. Ihre Beziehung zu Bonhoeffer hielt sie in Ehren. Die Begegnung mit ihm hat Zeichen in ihrem Leben gesetzt. Wie es an seiner Seite geworden wäre, wie wäre das zu sagen...

Magdalene Geisler

Brautbriefe Zelle 92: Dietrich Bonhoeffer, Maria von Wedemeyer 1943-1945: Dietrich Bonhoeffer - Maria von Wedemeyer 1943 - 1945. Sonderausgabe zum 100. Geburtstag Dietrich Bonhoeffers. Gebundene Ausgabe. 2005. C.H.Beck. ISBN/EAN: 9783406544408. 18,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
von Bismarck Ruth-Alice und Ulrich (Hg.) Kabitz: Brautbriefe Zelle 92. Dietrich Bonhoeffer Maria von Wedemeyer 1943-1945. Taschenbuch. 1993. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt,
Brautbriefe Zelle 92: Dietrich Bonhoeffer, Maria von Wedemeyer. 1943-1945 (Beck Paperback). Taschenbuch. 2016. C.H.Beck. ISBN/EAN: 9783406685187. 14,95 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

Buch

Die Tore von Damaskus

Wer kennt schon Damaskus und erst gar das Leben einer jungen Frau in dieser Stadt, die ihr Kind alleine durchbringen muss. Der Mann ist seit Jahren als politischer Häftling eingesperrt. Hala, die junge Syrerin, lehrt an der Universität, wird aber daneben von ihrer Familie total vereinnahmt. Über dem Alltagsleben schwebt das Damoklesschwert der Mukhabarat (Geheimpolizei). Doch das ist nur die eine Seite des auch lebensfrohen und farbenprächtigen Damaskus.
     Lieve Joris verbringt einige Sommerwochen bei dieser Frau und erlebt ihren Alltag hautnah mit. Es ist ein Reisebericht, doch lässt er eher erzählen, als Leute und Landschaft zu beschreiben.

Barbara Reindl

Lieve Joris: Die Tore von Damaskus. Gebundene Ausgabe. 1999. Malik Verlag. ISBN/EAN: 9783890291079
Lieve Joris: Die Tore von Damaskus: Eine arabische Reise. Taschenbuch. 2000. Piper Taschenbuch. ISBN/EAN: 9783492230889


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