Verriss = Fair Riss?
Wilfried Bienek, Mitautor im tage-bau.de und professioneller Texter über »Mein Pixel-Ich« versus Malte Bremer und den Streit über die vielbeachtete Kritik im Literatur-Café.

Der Pixel-Streit - Wie literarisch muss ein Online-Text sein?

Wie alles begann:
Zum Ausdruck drängt doch alles
Malte Bremers Kritik zum »Pixel-Ich«

»Darf man das denn?«
Roberto Simanowski über die Bewertungskritiken von Online-Texten

Verriss = Fair Riss?
»Pixel-Ich« Mitautor Wilfried Bienek über Kritiker und Kritisierte

»Schlag ihn tot, den Hund, er ist ein Rezensent.«, sagt Goethe. Malte Bremer hat »Mein Pixel-Ich« verrissen. Was würde Goethe dazu sagen?
     Da wir auf Goethes Antwort wahrscheinlich noch lange warten müssen, hier - unbescheiden - die meinige.
     In der Fotografie hat derjenige »verrissen«, dem es nicht gelang, seine Kamera ruhig zu halten. Das Bild wird unscharf. Da kann das Objektiv noch so gut sein.
     Objektiv? Jedes Objektiv zeigt nur einen Ausschnitt aus der Welt. Wer eine enge Perspektive haben will, nimmt das Tele. Wer eine weite haben will, das Weitwinkel. Das Tele pumpt Details auf, das Weitwinkel lässt Details die Luft raus.
     Eine Rezension ist das Bild eines Buches. Und genau wie wir uns auf Fotos »gut« oder »schlecht« getroffen fühlen, nur eine Möglichkeit, dem Gegenstand gerecht zu werden.
     Getroffen fühlen sich jetzt die Herausgeber des Tage-Baus. Ich schätze sie und ihre Arbeit. Jetzt fühlen sie sich alles andere als gerecht behandelt. Von einem Kritiker, dem Vertreter einer Spezies, der, wie z.B. Satire - alles darf?
     Das erinnert mich ein wenig an diesen Witz:

Kind bohrt in der Nase.
Oma fragt Mutter: Darf datt datt?
Mutter: Datt darf datt!
Oma: Datt datt datt darf!

Gibt es den gerechten Kritiker?
     Ein Buch ist für einen Kritiker das, was Fleisch für einen Wolf ist. Er verschlingt es und fängt an zu heulen.
     Wer wollte es ihm vorwerfen: Es liegt in seiner Natur, dass er seinen Verriss preisgibt oder diese Art Fleisch in den höchsten Tönen lobt.
     Sollte Malte Bremer während der Rezension seinen Schafspelz anlegen?
     Ich kenne Malte Bremer und schätze seine Kritiken. Wahrscheinlich hat er das Buch einfach so besprochen, wie Kritiker nun mal literarische Werke besprechen. Ohne mildernde Umstände. Wie jedes Buch, bei dem ein einfühlsamer Lektor seine Hand im Spiel hatte. Aber bei diesem Buch hat keiner ein Wort gestrichen, das hätte die Autonomie des Autors beschnitten. Wie ein Buch, das eine Produktionszeit von, sagen wir, einem Jahr hatte. Aber diese Beiträge mussten innerhalb von acht Wochen geschrieben werden. Seine Beiträge entstanden so spontan wie man eMails schickt. Soso! Na und?
     »Mein Pixel-Ich« hat wohl kaum den Anspruch, eine Anthologie zu sein, wo Cracks wie Gibson oder Coupland »Best of Internet« schreiben. Es ist eher die Momentaufnahme eines Prozesses. Für den erfahrenen Internetizen ein offenes Buch. Für den netzunkundigen Print-Medien-User eines mit sieben Siegeln.
     Nun: So schnell kommt keiner von beiden aus seiner Haut. Der Kritiker nicht, wie auch der Rezensierte. Dabei sind sie nur zwei Seiten einer Medaille.
     Oft stecken sie sogar unter einer Decke. Beide leben davon: Der Kritiker von seinem Ruf als Kritiker. Der Rezensierte von Verriss oder Lob. Denn egal wie die Rezension ausfällt: Sie fördert den Verkauf. Der Name wird genannt. Das Buch ist in aller Munde. Gibt's obendrein einen Streit, sind Kritiker und Buch also »umstritten«, erhöhen sich Ansehen und Verkaufszahlen. Beider Seiten!
     Der Rezensent! Er setzt uns ins Bild über »Mein Pixel-Ich«. Schlag’ ihn tot, den Hund? Lieber nicht! Was wäre die Welt ohne Bellen? Ein bisschen weniger im Bilde. Und Katzenjammer knallte noch deutlicher gegen das Gemüt - schlimmer als alle Verrisse!

Wilfried Bienek

Enno E. Peter; Sabrina Ortmann; Sabrina Ortmann; Enno E. Peter: tage-bau.de - Ein literarisches Online-Tagebuch: Mein Pixel-Ich. Taschenbuch. 2001. Books on Demand. ISBN/EAN: 9783831113484


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