Händler, Huren und Hochstapler
Wolfgang Tischer über seine Ferienlektüre 2002

Buddenbrooks unter PalmenThomas Mann: Buddenbrooks - Die Buddenbrooks hatte ich noch kurz vor dem Abflug aus dem Regal gegriffen. Dort standen sie schon seit mindestens fünf Jahren. Irgendwann einmal hatte ich mir das Taschenbuch gekauft, hatte es auf irgendeinem Wühltisch entdeckt und gedacht: Die Buddenbrooks sollte man eigentlich gelesen haben, also nimm sie mal mit. »Nimm sie mal mit«, das dachte ich auch kurz vor dem Abflug. Vielleicht findet man ja im Urlaub die Muße, einmal in das Werk hineinzuschauen, sich mit großer Lüteratur zu befassen, sich in die sicher nicht einfache Sprache einzulesen und mehr als drei Seiten zu schaffen, ohne dabei einzunicken.
     Das Buch hielt mich einige Abende wach, war das Erste, wonach ich morgens wieder griff, um endlich weiterzulesen! Ist man bei vielen Autoren fasziniert von ihrer Fantasie, von ihrer Kunst des Fabulierens, so kommt bei Thomas Mann noch die Bewunderung seiner Sprachkunst hinzu. Da werden Dinge und Menschen mit beeindruckenden Worten und Sätzen so fein beschrieben. Und keines der Vorurteile wurde bestätigt, und ich bin froh, dass das über 700 Seiten umfassende Werk noch in mein Handgepäck gewandert ist. Wer vielleicht auch die Buddenbrooks daheim auf dem Regal stehen hat, der sollte, ja der muss sie jetzt endlich auch einmal lesen!

Hure unter PalmenNelly Arcan: Hure - Ob es richtig war, nach Thomas Mann gleich Nelly Arcans Roman »Hure« zu lesen? Was kann nach den Buddenbrooks noch bestehen? Andererseits sind die Werke so grundverschieden und allein deswegen nicht miteinander zu messen. In »Hure« geht es, wie zu erwarten ist, um eine Hure, ihr Hurenleben, ihre Freier, Sinn und Bedeutung von Sex und um den Hass auf so viele Dinge, die das Hurendasein hervorgebracht haben. Diese Aufzählung gibt in etwa auch den erotischen Gehalt des Werkes wieder. Denn dass »Hure« kein schlüpfriges Werk, sondern wahrscheinlich hochliterarisch ist, das zeigt schon die Tatsache, dass es im seriösen Beck Verlag erschienen ist. Und auch ein erster Blick in die nicht ganz 200 Seiten zeigt, dass das Werk vermutlich sehr literarisch ist. Da findet man mehrseitige Absätze, deren Worte nur durch Beistriche getrennt sind, Gedanken und Assoziationsketten. Dann Punkt, dann Leerzeile, dann der nächste Absatz. Man gewinnt den Eindruck, als lese man die niedergeschriebenen Tonbandmitschnitte einer Sitzung beim Psychiater. Gedanken, die springen, die sich dauernd wiederholen, nur selten Handlung vermitteln, sondern abstrahieren und analysieren. Das Werk mag einen Psychoanalytiker erfreuen, mag ihn vielleicht - so ist zu hoffen - zu dem Urteil kommen lassen, dass die hurigen Gedankenstränge höchst realistisch wiedergegeben sind. Aber interessiert es mich? Es ist schlichtweg langweilig, und ich frage mich, warum das Buch in Kanada und Frankreich so ein Erfolg gewesen sein soll, kann es mir dann aber doch denken: Auf dem Cover und noch mal auf der hinteren Umschlagklappe ist die Autorin abgebildet. Sie ist jung und hübsch, hat - wie die Hure in ihrem Werk - Literatur studiert und ist auch Schriftstellerin. Sofort beginnt man sich natürlich zu fragen, wie viel vom Rest der psychoanalytischen Niederschrift autobiografisch ist. Vielleicht mag das den einen oder die andere zum Kauf des Buches veranlassen. Man muss es ja nicht, so wie ich, unbedingt bis zum Ende lesen.

John Colapinto: Ein unbeschriebenes Blatt - Dieser Roman liest sich wie ein Buch zum Film. Dabei gibt es (noch) gar keinen Film zu diesem Buch. Aber auch in diesem Punkt spielt der Roman mit Fiktion und Wirklichkeit und macht sich über den US-amerikanischen Literaturbetrieb lustig. Nur ein Roman, dessen Filmrechte Millionen einbringen, ist ein guter Roman! Cal Cunningham, die Hauptfigur, hat es geschafft: er wurde über Nacht vom schlecht bezahlten Angestellten einer Buchhandlung zum millionenschweren Bestsellerautor. Es gibt nur ein Problem: er selbst hat den Bestseller nicht geschrieben. Als sein WG-Genosse bei einem Unfall stirbt, reißt Cal sich dessen Manuskript unter den Nagel und gibt es mit Erfolg als sein eigenes aus. Das schöne Leben endet schnell, denn natürlich muss Cal eines Tages feststellen, dass es einen Mitwisser gibt, der ihn erpressen will.
     Colapintos Roman ist glatt und letztendlich ohne erzählerische Tiefe durchkonstruiert. Ein dennoch amüsantes und kurzweiliges Buch, das sich als Urlaubslektüre sehr gut eignet.

Wolfgang Tischer


Nelly Arcan: Hure. Roman. Gebundene Ausgabe. 2002. C.H. Beck Verlag. ISBN/EAN: 9783406493188. 14,50 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
John Colapinto; Sonja Hauser (Übersetzung): Ein unbeschriebenes Blatt: Roman. Gebundene Ausgabe. 2002. Piper. ISBN/EAN: 9783492043847. 16,90 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
John Colapinto; Sonja Hauser (Übersetzung): Ein unbeschriebenes Blatt: Roman. Taschenbuch. 2004. Piper Taschenbuch. ISBN/EAN: 9783492241328


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