Die Mineralogie der Liebe

Yoko Tawada liest in der Rampe

1960 wird Yoko Tawada in Tokyo geboren. Schon als Zwölfjährige versucht sie sich an ihrem ersten Roman, den sie fotokopiert verteilt. 1979 reist sie mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Europa, um das Fremdsein in der Fremde auszukosten (»Wer alleine lebt, ist gar nicht einsam. Das darf aber niemand sagen, sonst bringen sie einen um.«) Sie bleibt in Hamburg hängen und beginnt, deutsche Literatur zu studieren. Nach Veröffentlichungen in Japanisch und Deutsch springt sie als Grenzgänger zwischen den Worten, den Kulturen, den Menschen hin und her, benutzt Sprache nicht mehr als Werkzeug, sondern wie Personen, die sie mit Distanz und Respekt betrachtet.

Am 19.2.1997 sitzt sie im Rampenlicht der "Rampe" und eröffnet Niedlichs flügge gewordene Lesevergnügungsgesellschaft, die fortan alle zwei Monate in diesem Theater zu Gast zu sein wird.

Zur Einstimmung trägt sie ihre zweisprachigen Gedichte vor, singend fast, mit vibrierender Stimme und flackernden Lidern. Von Reisen und Andersartigkeit ist die Rede, von rolltreppenreparierenden Moskauerinnen und Männern, die in Umstandskleidern Apfelsaft trinken. Dann begleiten wir sie in die wundersam bizarre Welt ihres letzten Buchs "Talisman", einer Sammlung literarischer Essays, die wie eine ethnologische Abhandlung über exotische Länder anmutet. In der "Mineralogie der Liebe" erwirbt ein 13-jähriges Mädchen ein Buch über eine vergötterte Schauspielerin und sinniert übers Älterwerden, über Falten, die wie Gesteinsverwerfungen einen Körper überziehen. Das »Fremde aus der Dose« betrachtet das Geschlecht der Dinge, die Gestalt und das Gefühl von Buchstaben, Worten und Texten.

Als Yoko Tawada am Ende ihre Bücher signiert, malt sie japanische Schriftzeichen konzentriert neben deutsche Buchstaben. Nach dieser Lesung erscheint dem Betrachter beides gleichermaßen fremd.

Ingeborg Jaiser
26.02.1997


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