Lesen unter Strom: Mike Bartel über seine Erfahrungen mit elektrisierender Literatur
Was man sich bei manch langweiliger Lesung heimlich wünscht, nämlich dem Autor ein paar Stromschläge zu verpassen, das wurde jetzt in Berlin von der Zentralen Intelligenz Agentur ausprobiert. Die Zuschauer konnten den Vortragenden während ihrer Lesung Stromschläge erteilen. Mike Bartel war dabei. Jedoch nicht - wie Weichei Henryk M. Broder vom SPIEGEL Online - im Publikum, sondern an ein Stromkabel angeschlossen auf der Bühne. Hier sein Bericht.

Von Mike Bartel

Vorsicht! Stromschlag!Wie macht man heute auf sich aufmerksam, wenn man zu jung ist, um in der Waffen-SS gedient zu haben und zu untalentiert, um Tagesschau-Sprecherin geworden zu sein, aber dennoch fest davon überzeugt ist, etwas von hoher Relevanz verfasst zu haben?
     Die Zentrale Intelligenz Agentur (ZIA) probierte es dieser Tage in Berlin mit einer Lesung, bei der die Autoren an eine Art elektrischen Stuhl angeschlossen wurden und vom Publikum mittels Handy-Anruf unter Strom gesetzt werden konnten. Das rief immerhin zwei Fernsehteams (darunter eines von RTL), mehrere Rundfunksender und eine ganze Menge Zeitungsjournalisten (bis hin zum »Spiegel«) auf den Plan. Wenn man bedenkt, dass praktisch täglich auf irgendeiner Lesebühne in Berlin irgendein Spektakel stattfindet, die Presse aber längst nicht überall sein kann, ist dies schon mal ein höchst erquickliches Ergebnis. Mit dazu beigetragen haben dürfte auch die Person der Hauptorganisatorin: die diesjährige Bachmann-Preisträgerin Kathrin Passig.
     Angesichts dieser Rahmenbedingungen spielten die lesenden Autorinnen und Autoren nur noch eine untergeordnete Rolle.  Von daher gibt es auch gar keinen Grund, mir etwas darauf einzubilden, einer von ihnen gewesen zu sein. Zumal ich nur zufällig, wenige Stunden vorher, durch den Anruf eines entfernten Bekannten, mit dem ich an diesem Abend eigentlich ein Bier trinken gehen wollte, von dieser Veranstaltung erfahren hatte. Mir blieb nicht mal Zeit, meine überstürzte Teilnahmebereitschaft in Bezug auf mein Gewissen abzusichern.
     War vielleicht auch besser so. Schlimm genug, mit ansehen zu müssen, welch abstruse Gedankenverknüpfungen die krampfhafte Suche nach der Sinnfrage zeitigte. Natürlich wollten alle erst mal wissen: Wie funktioniert es und wozu das Ganze? Wenig hilfreich waren die von den Organisatoren zur Ankündigung verwendeten Vokabeln. Wortungetüme wie »Apres-Bunny-Formate Teil 6« und »Onkel Milgrams Open Mike« verschleierten mehr als sie erklärten. Erst nach und nach kam heraus, dass ein wissenschaftliches Experiment des Psychologen Stanley Pilgram ungefragt Pate für die als »Weltneuheit« angekündigte Lesung stand: Der Amerikaner hatte 1961 die Bereitschaft von Versuchspersonen getestet, anderen Menschen zur Strafe Stromstöße zu versetzen. Während damals die Schmerzen vom vermeintlichen Opfer, einem Mitarbeiter Milgrams, nur vorgetäuscht wurden, sollten sie diesmal wirklich spürbar werden – und zwar für die Autoren.
     Deswegen durfte auch nur mitmachen, wer vorher eine Einverständniserklärung unterschrieb, in der er die Veranstalter von jeglicher Haftung für eventuelle gesundheitliche Folgeschäden frei sprach. Im Gegenzug wurde versichert, dass man das Experiment jederzeit abbrechen könne; beispielsweise, wenn die vom Publikum erteilten Stromstöße zu schmerzhaft werden.
     Bleibt freilich immer noch die Frage, was mit dieser Form von Lesung bezweckt werden soll. Dem Publikum seine sadistische Ader vor Augen führen? Den Masochismus mancher Autoren befriedigen? Den Vorlesenden klar machen, dass schlechte Texte wehtun? Dem Publikum das Gefühl geben, nicht hilflos dem Vorlesenden ausgeliefert zu sein?
     Begriffen hat es selbst am Ende scheinbar niemand so recht, denn längst nicht immer herrschte Einigkeit, ob man den Richtigen frühzeitig genug unter Strom gesetzt oder andere zu lange hat gewähren lassen. Wohl aus einer Art Schutzreflex für die eigne Psyche heraus, lasen viele der allesamt aus Berlin stammenden Autoren bewusst besonders schlechte Texte und gaben dies auch zu, was wiederum vom Publikum mit extra langer Lesezeit bestraft wurde. Die Perversion der Perversion?
     Die meist gestellte Frage hinterher: Hat es sehr wehgetan? Immerhin war die gefühlte Schmerzskala für die Autoren von »Kribbeln und Ziepen« über »kleine Stecknadelstiche« und »intensivem Brennen« bis hin zum »Ausgepeitscht-Werden mit einer glühenden Stacheldrahtpeitsche« angekündigt worden. Ich für meinen Teil habe, nach der mutmaßlich kürzesten Lesezeit, bei einem mit brennnesselartigem Ziepen verbundenen Muskelzittern im rechten Unterarm Schluss gemacht. Obwohl meine Texte gar nicht so schlecht gewesen sein konnten. Schließlich wurde jenes Gedicht, das ich gerade noch zu Ende lesen konnte, tags darauf als einziger vorgelesener Text sowohl in der Berliner Zeitung, als auch in der Online-Ausgabe des »Spiegel« zitiert. Und zwar nicht ausdrücklich als abschreckendes Beispiel. Für einen, der weder Günter Grass noch Eva Herman heißt, ist das gar nicht so übel.    

Mike Bartel
www.mikebartel.de
06.09.2006

Mike Bartel - Geboren 1962 in Pforzheim, lebt in Remchingen (Enzkreis). Journalist, Kolumnist, Autor. Mitglied im Verband Deutscher Schriftsteller (VS). Mehrere Bücher, unter anderem »Fräulein Müllers Gespür für genmanipulierte Gartenzwerge«, Satiren (1998), und Deutschlands ersten Roman auf Toilettenpapier »Das Hecheln der Bonner Lisa« (2002). Zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitungen (Süddeutsche Zeitung, taz, BNN), Zeitschriften (Eulenspiegel, Wandler) und im Hörfunk (SWR 2). Mehrere Auszeichnungen, unter anderem Förderpreis des Kunstministeriums Baden-Württemberg (1998) und beim Literaturwettbewerb »Lyrik-Express« der Deutschen Bahn (2001). www.mikebartel.de
Im Literatur-Café: Mike Bartel: »Vor roten Ampeln« und »Des Dichters Lohn«


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