»Fremd bin ich ausgezogen…«
Peter Härtlings »Melchinger Winterreise« auf der Schwäbischen Alb

Nach mehreren Jahren mit erfolgreichem, ja geradezu legendärem Sommerprogramm (auf den Spuren von Hölderlin oder Horvath) schwenkt das Melchinger Theater Lindenhof um. Dieses Jahr ist eine Winterreise angesagt, gut gerüstet mit langen Unterhosen, Glühwein und Punsch.
     Wer in die abgelegene Albgemeinde Melchingen findet, gehört nicht zur Laufkundschaft - eher zum bemühten Bildungsbürgertum der fernen Großstädte, Wiederholungstäter eingeschlossen. Zwanglos wird das Publikum in einen umgewidmeten Linienbus gepackt und auf den Himmelberg gekarrt, derweil der Busbegleiter ein »Herzlich Willkommen an Bord« ins Mikro trällert und die erwarteten Minustemperaturen durchgibt. Auch eine fingierte Polizeikontrolle sorgt noch für Erheiterung - doch dann wird es Ernst.
     Ein mit Megafon ausgerüsteter Führer (»Zusammenbleiben bitte. Gut aufschließen. Danke!«) treibt die Zuschauer über ein windiges Hochplateau, dessen riesige Windräder für eine abgehoben futuristische Kulisse sorgen. Flüchtlinge wärmen sich an einem Kohleofen, verlorene Koffer säumen den Weg, ein tollpatschiger Engel segelt übers matschige Gras und weiter hinten stolpert Franz Schubert lamentierend durch die Landschaft. Geschickt werden in der »Melchinger Winterreise« Stationen aus Peter Härtlings Jugend mit Szenen seiner Schubertbiographie collagiert, zuweilen ins Groteske verzerrt. Heimatlosigkeit ist das Thema - und kaum ein anderer Ort könnte eine so surreale Atmosphäre dafür abgeben wie die karge Hochebene der Schwäbischen Alb. Schon bald ist nicht mehr klar, wer zufälliger Spaziergänger ist, wer Zuschauer, Statist oder Schauspieler.
     Erst unten im Dorf, in der überheizten Theaterscheune, ist man wieder unter sich. Liegt es am ausgeschenkten Glühwein, dass sich das Karussell der inszenierten Bilder immer schneller dreht, immer wirrer wird? Wer seinen Härtling nicht auswendig kennt, gerät leicht ins Trudeln zwischen den rasant wechselnden Zeitebenen und Szenen. Und manch einem werden die Glieder schwer auf den harten Holzbänken.
     Und doch tobt das Publikum nach dreistündigem Marathon. Dass die "Winterreise" auf zwei Monate hinaus ausverkauft ist, gehört mit zum Spiel. Willige werden trotzdem noch ein Schlupfloch finden.

Text: Ingeborg Jaiser/Lomos: Lothar Schmidt
13.01.1998

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