»Gemeinsam einen Markstein setzen«
Die Stadt Rottweil verschickte zu Silvester 1999 Briefe ins nächste Jahrhundert

Wenn Sie heute einen Brief schreiben könnten, von dem Sie wüssten, dass er den Empfänger erst in hundert Jahren erreicht, was würden Sie schreiben? An wen würden Sie schreiben? Sie selbst werden dann tot sein, und der Empfänger ist heute noch nicht geboren.

Postbox Rottweil
Dies waren die Bedingungen:
  • Es wurden nur Briefe mit Papierinhalt angenommen. Fotos waren erlaubt.
  • Es sollte säurefreies Papier verwendet werden.
  • Handgeschriebene Briefe sind vermutlich am haltbarsten, bei Ausdrucken sollte besser einen Laser- anstatt eines Tintenstrahldruckers verwendet werden.
  • Der Brief durfte nicht größer als DIN A5, dicker als 0,5 cm und schwerer als 100g sein.
  • Auf dem Umschlag des Briefes sollte der Name des Empfängers und der Name des Absenders stehen, sowie Geburtsdatum und -ort.
  • Wenn der Sendung zusätzlich ein frankierter Rückumschlag beilag, erhielt der Schreiber eine Eingangsbestätigung.
  • Über die Website konnte der Brief auch per eMail nach Rottweil schicken werden, es wurde jedoch der normale Postweg empfohlen.

Die Postbox vor dem Alten Rottweiler RathausWas wie eine philosophische Gedankenspielerei klingt, das ließ die Stadt Rottweil zur Realität werden. Vor dem Alten Rathaus der schwäbischen Stadt stand nämlich von September bis Dezember 1999 ein besonderer Briefkasten. Es war ein silbern glänzender Edelstahlwürfel mit eineinhalb Metern Kantenlänge, in den insgesamt 40.000 Briefe passen.
     Am letzten Tag des Jahres wurde diese Postbox dann in der historischen Innenstadt von Rotteil vergraben und erst hundert Jahre später, am 31.12.2099, wird sie wieder ans Tageslicht befördert und geöffnet werden. Dann werden die Briefe den Empfängern zu gestellt.
     Jeder war aufgerufen, Briefe für die Postbox zu schreiben. Die Box selbst wurde bis zum Jahresende an wechselnden Orten aufgestellt werden, unter anderem auch auf der Frankfurter Buchmesse und am Stuttgarter Flughafen.
Johannes Rühl     »Ich wollte etwas Bleibendes machen, einen Markstein setzen, etwas hinterlassen«, so Johannes Rühl auf die Frage, wie er auf diese ungewöhnliche Idee gekommen ist. Rühl, Leiter des Rottweiler Kulturamtes, gibt sich bescheiden: »Die Idee der Zeitkapseln ist nicht neu, doch werden ähnliche Projekte häufig für die Ewigkeit ausgelegt. Die Deutsche Post schickt sogar eine Rakete mit 2000 Briefen ins All.«
     Solche Projekte hält Rühl schlichtweg für Blödsinn: »Wer einen Brief in der Postbox hinterlegt, der kann relativ sicher sein, dass er den Empfänger in hundert Jahren auch wirklich erreicht. Bis dahin wird sich natürlich einiges verändert haben, aber man kann davon ausgehen, dass die Welt noch existieren wird.« Das Schreiben eines Briefes zwinge den Schreiber dazu, den eigenen Tod vorwegzunehmen und jede Kultur geht damit anders um.
     Daher wurde auch im Internet in elf Sprachen für die Aktion geworben, und man konnte auch dort seinen Brief per eMail nach Rotteil schicken. Rühl:»Wir haben die eMails dann ausgedruckt und in die Box gelegt, denn Papier ist der einzige kompatible Datenträger. Die Briefe sind ja an Privatpersonen gerichtet und niemand weiß, ob in hundert Jahren jeder Haushalt überhaupt noch z.B. mit einem CD-ROM-Laufwerk ausgestattet sein wird.«
     Obwohl der Leiter des Kulturamtes begeistert ist, welche Möglichkeiten das Internet bot, um international auf die Postbox aufmerksam zu machen, wollte er die Briefe aber doch lieber auf dem normalen Postweg erhalten: »Wir wollen die Briefe nicht lesen, auch nicht in Ausschnitten. Wenn wir die E-Mails ausdrucken und registrieren, dann lässt es sich aber nicht vermeiden, dass da ein Blick auf den Text fällt.«
Unter dem Kapellenturm wurde die Box vergraben     In der Tat wurde jeder eingegangene Brief katalogisiert und mit einer Nummer versehen. Es wurden Eingangsdatum, Absender und Empfänger notiert und der Briefschreiber erhielt auf Wunsch eine Eingangsbestätigung, wenn der Sendung ein frankierter Rückumschlag beilag. »Diese Quittung kann vererbt werden, und wer in hundert Jahren die Quittung besitzt, dem darf der Brief ebenfalls ausgehändigt werden. Diese Leute helfen in 100 Jahren dabei, dass man sich and die vergrabene Box erinnern wird und die Briefe die Empfänger erreichen werden«, so Rühl.
     Und an wen schrieben die Leute? Das war ganz unterschiedlich. Die meisten schrieben an ihre noch nicht geborenen Nachkommen, andere richteten Botschaften an die künftigen Bewohner ihres Hauses. Aber es gibt auch Briefe mit konkreten Adressaten, so findet sich ein Brief »An einen Schwulen im Raum Osnabrück« oder »An eine junge Krebspatientin«. Viele Briefe richten sich auch an Würdenträger und Amtsinhaber. Jemand hat auch ein Sparbuch in seinen Brief gelegt. Briefe mit dubiosem Inhalt wurden jedoch zurückgeschickt, denn zugelassen war nur ein Inhalt aus Papier. Fotos waren erlaubt.

Rühl und ArnoldAm 31.12.1999 gegen 11 Uhr mittags war es dann soweit: Rottweils Oberbürgermeister Dr. Arnold und Johannes Rühl erklommen den Kranwagen, um ihre abschließenden Reden zu halten, bevor dieser die Edelstahlkiste mit den Briefen für das nächste Jahrhundert vor der Kapellenkirche im Boden versenken sollte. Zahlreich Bürger der Stadt waren anwesend und nicht zuletzt auch etliche Pressevertreter. Die Idee, dass jedermann die Möglichkeit hatte, einen Brief zu schreiben, der hundert Jahre in der Erde lagert und dann dem Empfänger zugestellt wird, wurde u.a. vom FOCUS zur besten Idee zum Jahreswechsel gezählt. Auf diese Medienresonanz war der Bürgermeister mächtig und sichtlich stolz.
Die Postbox wird vergraben     Für gut 40.000 Briefe war in der Postbox Platz gewesen, am Ende wurden jedoch nur etwas über 3000 Briefe registriert. Allerdings nutzten viele Rottweiler auch noch die letzten Minuten vor 12 Uhr, um ihren Brief in die Box zu werfen. Da fand man noch Briefe »An die Bewohner des Hauses…« oder einen Brief »An den Bürgermeister von Frittlingen«.
     Punkt zwölf dann der letzte Aufruf, ob noch jemand einen Brief einzuwerfen habe, und dann wurde die Box fachmännisch verschweißt und in den eigens erstellten Betonschacht abgelassen, der mit einem Betondeckel verschlossen wurde.
     Ein Gedenkstein, der an dieser Stelle angebracht wird, und eine Münze im Büro des Stadtarchivars sollen dann daran erinnern, was hier unter dem Kapellenturm lagert, sodass in hundert Jahren die Box wieder ausgegraben werden kann und die Briefe dann den Empfängern zugestellt werden - portofrei.

Wolfgang Tischer
28.09.1999/31.12.1999


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