Erstveröffentlichung

Wie mir sogar das Chaos im Netz zweimal nützlich war
von Reinhard Kaiser

Dass die Datenwüsten und Informationsmassen im Internet höchst unüberschaubar seien, wird oft und mit Recht beklagt. Und es wird mit ebenso viel Recht darauf hingewiesen, dass jene Suchmaschinen, die die verschiedenen Plätze im Netz von Zeit zu Zeit zwecks automatischer Erstellung von Registern durchkämmen, diese Unübersichtlichkeit nur reproduzieren, indem sie ohne Sinn und Verstand und ohne abzuwägen Stichworte erzeugen und auf Anfragen nachher mit unzähligen so genannten »Hits« oder »Treffern« reagieren, die oft genug völlig daneben gehen. Gelegentlich jedoch ergeben sich aus dieser automatischen Wahllosigkeit, diesem maschinell fortgezeugten Chaos auch unverhoffte Chancen für Faktenkriminalisten, die auf der Suche nach entlegenen Begriffen, Namen oder Sachverhalten sind.
Therese Neumann (1898-1962), die »Stigmatisierte von Konnersreuth«, über die ich während der Arbeit an einer Übersetzung mehr wissen wollte, als im enzyklopädischen »Meyers« steht, wäre wohl durchgefallen, wenn sich in Kalifornien (oder sonst irgendwo außerhalb Bayerns) ein Internet- Registermacher bei wachem Verstand mit ihr konfrontiert gesehen hätte. Er hätte sie vermutlich nicht als Bereicherung, sondern als Belastung seiner Datensammlung angesehen und weggelassen - zumal die fromme Therese, was die Wundmale Christi und vor allem was ihre Essgewohnheiten anging (jeden Freitag eine Hostie, sonst nichts, und dies über Jahrzehnte), höchst wahrscheinlich eine Betrügerin war, wenn auch aus höheren Beweggründen (die eigene Seligsprechung). Die automatischen Registermaschinen jedoch halten die seltsame Heilige trotzdem fest und geben sie auf Anfrage auch wieder heraus, zusammen mit den Adressen einiger nicht unbeträchtlicher Dokumente, die auf einem Server der Universität Regensburg liegen.

Das zweite Beispiel: Während ich im letzten Jahr einen Band mit Erzählungen von Sam Shepard übersetzte, habe ich Gott und die Welt (darunter auch einige Amerikaner) mit dem folgenden Satz behelligt, in dem beschrieben wird, wie es in einer überfüllten Tanzbar im Südwesten der USA zugeht: »Couples are glued together in perfect sync … barely brushing the whirling scarves and skirts and the sea of bobbing Resistols«. Was denn bitte »Resistols« seien, wollte ich wissen. Aus dem Kontext schloss ich auf Textiles und Kleidung. Aber niemand konnte mir mit Präzisierungen weiterhelfen, und Mr. Shepard selbst, das hatte ich schon erfahren müssen, war nicht nur außerordentlich schwer erreichbar. Er oder sein amerikanischer Verlag oder sein Agent oder alle zusammen neigten auch dazu, aus Nachfragen jedweder Art auf die allgemeine Unwissenheit des Fragenden zu schließen (was das Vergnügen bei der Arbeit an diesen Geschichten aber nur geringfügig trübte).

»Resistols« jedenfalls war bis zuletzt ungeklärt geblieben, eines von jenen Problemen, die die Moral des Übersetzers immer mal wieder auf harte Proben stellen (um am Ende im traduttore vielleicht sogar den traditore zu wecken). In meiner Not tippte ich »Resistol« in die Suchmaske von »Lycos« oder »Altavista« - und geriet, nachdem ich einen Augenblick lang verzagt auf meinen Bildschirm gestarrt hatte, schon über dem Ausbleiben der Meldung »no match found« in ungläubiges Staunen, das sich zu einem epiphanischen Überglück steigerte, als sich binnen weniger Sekunden vor meinen Augen eine Liste von zehn oder fünfzehn kalifornischen Hutgeschäften aufbaute, die allesamt das, was ich suchte, im Angebot hatten! »Resistol« war eine Westernhut-Marke!! Es hielt mich nicht länger auf meinem Stuhl. Im Stehen klickte ich mich zum Katalog einer dieser Huthandlungen durch und konnte mir bald auf der Seite von Ritchie’s Western Wear einen Eindruck von der Vielfalt der Modelle verschaffen: »Black Gold« mit 4-Inch-Krempe zum Spezial-Discount von 330, statt 420 Dollar, einfachere Modelle, wie »Cattleman Silver Belly« ab 129,95 Dollar. Kurzum, ich war im Bilde.

Zumindest, was die »Resistols« anging.

Ich will damit nicht sagen, dass das Internet auf alles eine Antwort habe, aber auf manches eben doch. Und dass es bisweilen auch ganz unverhoffte Antworten bereithält, ergibt sich nicht zuletzt aus der wahllosen Willkür, mit der es alles schluckt und alles gleich wichtig nimmt - mit anderen Worten: Der Wust lebt auch!

Reinhard Kaiser
06.03.1998


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