»Wir sind kein Reader’s Digest zum Hören«
Dieter Löwenbrück hat sich in der Hörbuchbranche um-gehört
 

Nachwievor ist der Hörbuchmarkt ein Wachstumsmarkt. Erstmals war im vergangenen Jahr 2003 auch auf der Frankfurter Buchmesse ein »Forum Hörbuch« eingerichtet. Die Leipziger Messe besitzt bereits seit dem Jahre 2000 einen solchen Hörbuch-Schwerpunkt. Wir wollten wissen, wie die Hörbuchverlage selbst die aktuelle Entwicklung einschätzen.

Viel Fantasie in diesem Markt
Laut einer Studie des Börsenvereins des deutschen Buchhandels lagen die Verlagsumsätze mit Hörproduktionen im Jahre 2002 bei rund 55 Millionen Euro. Im Vergleich dazu hat die gesamte Buchbranche mehr als 9 Milliarden Euro umgesetzt. Andreas Schäfler vom Verlag Antje Kunstmann bezeichnet den Anteil der Hörproduktionen dennoch als marginal. Die im eigenen Hause produzierten Titel betrachtet er eher als Liebhaberei. Gotthard Scholz, Inhaber des Labels Tonkombinat, sieht dies ähnlich. Die weitere Entwicklung schätzt er sogar eher pessimistisch ein, wobei er das vorhandene kreative Potenzial dessen ungeachtet positiv sieht: »Es ist viel Fantasie in diesem Markt«.
     Diesem Urteil schließt sich auch Heike Völker-Sieber vom Hörverlag an. Der Handel habe trotz der im Verhältnis geringen Umsatzzahlen das Potenzial des Hörbuchs erkannt, vor allem wenn es darum gehe, jüngere Menschen in die Buchhandlungen zu locken. Erstmals hat der Hörverlag eine Studie in Auftrag gegeben, um das Profil des durchschnittlichen Hörbuchkäufers zu ermitteln. Es überrascht die Tatsache, dass es zur Hälfte Männer sind, die regelmäßig Hörproduktionen kaufen. Bei Büchern liegt der Anteil der männlichen Käufer nur bei etwa 30 Prozent. Außerdem ist der typische Hörbuchkäufer 10 bis 15 Jahre jünger als der durchschnittliche Buchkäufer. Vergleicht man den Hörbuchhörer nicht nur mit dem Buchleser sondern allgemein mit dem Normalbürger, so besitzt der Hörbuchfan einen höheren Bildungsabschluss und ein höheres Einkommen. Auch sonst ist er als Kulturkonsument sehr aktiv, besucht Kino, Theater und Sportveranstaltungen. Das Hörbuch hätte also durchaus das Potenzial, den Buchhandel aus dem gegenwärtigen Umsatztal herauszuführen. »Diese Kundschaft ist eigentlich ein Traumpublikum«, schwärmt Heike Völker-Sieber.

Original statt Raubkopie
Welche Rolle spielt die Aufmachung und die Ausstattung beim Kauf eines Hörbuches oder eines Hörspiels? Ein Aspekt, der im Zeitalter der Raubkopie und der problemlosen Verbreitung über das Internet nicht zu unterschätzen ist. Nur wenn das Produkt mehr bietet als bloßen Hörgenuss, wenn der Käufer also auch im umfangreichen Booklet blättern kann oder Informationen über Autor, Sprecher und Produktion erhält, wird er den Kauf der Raubkopie klar vorziehen.
     Alexandra Rosetti vom schweizerischen Verlag Kein & Aber, der kurioserweise mit Hörproduktionen begonnen hat und erst jetzt auch gedruckte Bücher verlegt, hält die äußere Gestaltung einer Hörproduktion für sehr wichtig. Entsprechend sind die Produkte des Verlags in den meisten Fällen mit einem aufwendig gemachten Booklet ausgestattet. Ebenfalls ansprechend gestaltet ist die CD-Hülle. Auch Gotthard Scholz vom Tonkombinat legt großen Wert auf die Gestaltung seiner Titel und richtet sie zudem auf spezielle Zielgruppen wie z.B. Weinliebhaber aus. Dabei ist der spätere Preis nicht das wichtigste Kriterium, denn »die Leute schauen im Buchladen nicht auf zwei oder drei Euro mehr«. Beim Hörverlag hat zwar die Gestaltung des Covers eine wichtige Bedeutung, dennoch wird dem kleineren Verkaufspreis im Zweifelsfall der Vorrang gegeben.
     Die beim Patmos Verlagshaus erscheinenden Titel besitzen ebenfalls ein ansprechendes Erscheinungsbild, obwohl sie preislich unter dem Durchschnitt liegen. Karin Lorenz, Programmdirektorin bei Patmos, die schon seit mehr als zwanzig Jahren mit Hörproduktionen zu tun hat, setzt den Akzent mehr auf die inhaltliche Gestaltung des jeweiligen Hörspiels oder Hörbuchs. Durchaus ein Erfolgsrezept, denn ca. 80 % seiner Hörbuch-Umsätze macht der Verlag mit Titeln der so genannten Backlist, also mit Titeln, die nicht unmittelbar zum aktuellen Programm zählen.

Bekannte Sprechernamen ziehen
Und der Vorleser oder Sprecher? Wie wichtig ist er oder sie für die Produktion? Bei Patmos wird zur Not eine Produktion auch mal zwei Jahre verschoben, wenn ein bestimmten Vorleser gerade mal einen vollen Terminkalender haben sollte.
     Derzeit besteht der Trend, für Hörproduktionen insbesondere im Bestsellerbereich bekannte Fernsehschauspieler zu engagieren. Problematisch ist dies dann, wenn die Popularität des Sprechers wichtiger ist als die Qualität der Interpretation. Doch nur für wenige Kunden ist der Sprecher das entscheidende Kaufargument.
     Thomas Krüger von Random House Audio hält die Auswahl des Sprechers für sehr wichtig. »Ein bekannter Name zieht selbst bei einem unbekannten Stoff oder Autor«, so Krüger. Er räumt allerdings durchaus ein, dass damit nicht automatisch eine bessere Qualität verbunden ist.
     Ein anderer Aspekt ist beim schweizerischen Verlag Kein & Aber wichtig. Sofern möglich, hat Alexandra Rosetti den Anspruch, eine Verbindung zwischen Autor und Sprecher herzustellen. Stammt der Text also beispielsweise von einem österreichischen Autor, so sollte er idealerweise von einem Österreicher vorgelesen werden. Das schränkt die Auswahl der Sprecher zwar deutlich ein, ist aber dem »Hörbuch als eigenständigem Medium« (Alexandra Rosetti) durchaus angemessen.
     Es ist durchaus sinnvoll, bei der Sprecherfrage zwischen einem »geübtem« Hörbuchhörer und einem »Neuhörer« zu unterscheiden. Wer schon eine gewisse Hörbucherfahrung hat, für den kann eine Stimme durchaus ein Kaufargument sein. Stimmen werden hauptsächlich emotional wahrgenommen. Wer eine Stimme nicht mag, wird das Hörbuch nicht kaufen, auch wenn ihn der Stoff interessiert. Beim Neuhörer spielt der Vorleser nur dann eine Rolle, wenn er oder sie auch aus anderen Medien bekannt ist.
     »Meine besten Produktionen kommen ohne bekannte Namen aus«, so Gotthard Scholz vom Tonkombinat zum Thema. Nichtsdestotrotz hat er mittlerweile bekannte Namen im Programm, weil Künstler und Schauspieler seine Projekte spannend finden. Scholz ist die Qualität und das Konzept wichtiger.
     Und wer entscheidet, was vertont wird? Naheliegend sind natürlich Stoffe, die sich dazu regelrecht anbieten, wie z. B. Mitschnitte von Autorenlesungen. Ebenso spielen wirtschaftliche Erwägungen eine große Rolle: Hat der Verlag bereits die Rechte an der Buchausgabe? Arbeitet der Hörbuchverlag mit einem reinen Buchverlag in Form einer Kooperation zusammen? Auf diese Weise reduzieren sich die Produktionskosten, was die Entscheidung erleichtert, einen bestimmten Text entsprechend umzusetzen. Bei einem großen Produzenten wie Random House Audio, der zum Bertelsmann-Konzern gehört, ist das sogar ausschließlich so. Einen enormen Einfluss auf die Auswahl haben natürlich auch die jeweiligen Programmleiter. Neben wirtschaftlichen Aspekten ist durchaus Raum für deren Vorlieben und Ideen. Eher selten wird ein Werk gewählt, das ein bestimmter Vorleser selbst vorschlägt, weil er den Text gerne lesen würde.

Gekürzte oder ungekürzte Fassung?
Immer wieder kontrovers diskutiert wird die Frage, ob ein Hörbuch ungekürzt oder gekürzt als so genannte Lesefassung erscheinen sollte. Vertritt man den Standpunkt der Werktreue, so darf die Hörbuchfassung natürlich nicht gekürzt, geschweige denn Bearbeitungen vorgenommen werden, die stark in den Text eingreifen. Die Befürworter der ungekürzten Hörfassung führen das Argument an, dass man dem Hörer im Vergleich zum Leser nicht einfach etwas vorenthalten könne, er sei schließlich kein Leser zweiter Klasse. Dem gegenüber steht das Argument, dass auch das gedruckte Buch nur eine von vielen möglichen Variationen des ursprünglichen Manuskripts sei. Der jeweilige Lektor habe einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die endgültige Fassung des Buches.
     Wer das Hörbuch als eigenständiges Medium ansieht, muss einem Hörbuchmacher das gleiche Recht wie einem Lektor zugestehen. Der jeweilige Autor sollte allerdings mit den Kürzungen einverstanden sein, sodass von einer autorisierten Hörfassung gesprochen wird. Es kam durchaus schon vor, dass ein Autor eingestehen musste, dass sein Text durch die Kürzung sogar gewonnen habe. Ungekürzte Lesungen gelten in der Branche eher als »Ersatzmedium für Blinde«. Kürzungen und Bearbeitungen eines Textes sollten beim Hörbuch ebenso selbstverständlich sein wie etwa beim Theaterstück oder bei der filmischen Umsetzung. Karin Lorenz von Patmos sagt hierzu recht provokant: »Viele Leute greifen nicht in den Text ein, weil sie damit nicht umgehen können«.
     Der Gesamtumfang der Produktion wird im Allgemeinen als Hauptproblem der ungekürzten Ausgabe angesehen. Kaufen Hörer Produktionen, die mehr als drei CDs umfassen? Im Grunde geht es auch nicht um eine 1:1 Vertonung, sondern darum, dass Inhalt und Stimmung des Werkes vermittelt werden und Zusammenhänge verständlich bleiben. Alexandra Rosetti von Kein & Aber: »Trotz Kürzungen sind wir schließlich kein Reader's Digest zum Hören«.
     Thomas Krüger von Random House Audio ist Kürzungen gegenüber grundsätzlich aufgeschlossen. Ein Buch als Hörbuch vorgelesen zu bekommen oder ein Buch selbst zu lesen, sei etwas Grundverschiedenes. Daraus abgeleitet benötige man für das Hörbuch eine andere Dramaturgie. Dies gelte besonders für Bestseller, bei denen der Markt ohnehin keine ungekürzte Lesung annehmen würde. Krüger: »Ich bin durchaus der Meinung, dass manchem Roman eine Verschlankung gut tut.«
     Bei der Vertonung von Klassikern verhält es sich jedoch anders. So bietet beispielsweise der Hörverlag einige ungekürzte Lesungen an. »Wir leisten uns den Luxus, dies auch bei sehr umfangreichen Texten zu tun«, so Heike Völker-Sieber. Ausschlaggebend sei zwar die Qualität, Tatsache sei aber auch, dass es Produktionen mit einem Umfang von mehr als 10 CDs am Markt ziemlich schwer haben.
     Schade eigentlich. Denn gibt es etwas Schöneres als sich bei nasskaltem Regenwetter mit einem Hörspiel wie »Der Herr der Ringe«, das einen Umfang von 10 CDs hat, zu Hause gemütlich zu vergraben? Oder sich bei einer anstrengenden langen Autofahrt über Douglas Adams »Per Anhalter ins All«, immerhin auch 6 CDs, köstlich zu amüsieren? Für einen wahren Adepten der Hörliteratur wohl nicht.

Dieter Löwenbrück

27.01.2004

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