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Gute Schurken sind rar – Das Böse in der Populärkultur

Das BöseVon David Gray – Der Historiker und Autor Albrecht Behmel hat hier im literaturcafe.de vor kurzem in seiner Kolumne bereits »Partei für das Böse« ergriffen.

Soweit ich weiß, lobt er sogar einen Preis für den besten fiktiven Schurken des vergangenen Jahres aus.

Auch wenn ich während des Verfassens meines Textes noch nicht wissen kann, wem Albrecht seinen »Samiel-Award« überreichen wird, steht dennoch fest: Über das Böse nachzudenken lohnt sich.

Und zwar immer.

I. Jodeldiplome – gute Schurken sind rar

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Ich will nicht behaupten, dass in deutschen Landen gar keine faszinierenden fiktiven Schurken mehr kreiert werden. Aber es werden – gefühlt – deutlich weniger. Und ich beziehe mich hier auf fiktive Schurken, die so viel Einfluss und Faszination beim breiten Publikum entwickeln, dass sie ihre Spuren in der Populärkultur hinterlassen.Was ist geschehen? Ist denn überhaupt etwas geschehen? Sehe ich vielleicht einfach nur zu schwarz?

Durchaus möglich.

Aber wer war der letzte fiktive Schurke aus einem deutschen Spielfilm oder Buch, an den sich von zehn Leuten, die man auf der Straße daraufhin anspricht, auch nur mehr als vier erinnern können?

Ich wette, dass mehr als vier von zehn wissen würden, wer Mephistopheles war. Und mindestens ebenso viele werden bekennen, den Namen »Nosferatu« zumindest schon einmal gehört zu haben und sich nach einem Moment wahrscheinlich sogar erinnern, dass es sich dabei um einen Film der Stummfilmära handelt.

Auch mit dem Namen der berühmtesten fiktiven Femme Fatale des 19. Jahrhunderts, der Loreley von Heinrich Heine, wird die Mehrzahl der Befragten irgendetwas verbinden. Dasselbe gilt für Mackie Messer aus Brechts Dreigroschenoper – »Und der Haifisch, der hat Zähne / und die trägt er im Gesicht / Und Macheath, der hat ein Messer/ Doch das Messer, sieht man nicht«.

Vielleicht nicht gar so viele Leute, aber immer noch genug, werden sich auch erinnern, dass in Bölls »Die Verlorene Ehre der Katherina Bluhm« ein sehr schleimiger und skrupelloser Reporter auftritt, dem die titelgebende Katherina ihr Unglück zu verdanken hat. Der Roman erschien 1974 und wurde 1975 von Volker Schlöndorff verfilmt.

Dann, was kam danach?

Romuald Karmakars »Totmacher« mit Götz George in der Titelrolle als Serienmörder Haarmann fällt mir noch ein. Der kam 1995 ins Kino.

Seit dieser Zeit scheint es um fiktive Schurken aus deutschen Federn jedoch auffallend still geworden zu sein.

Woran liegt das?

Ist es wirklich genug, einzig den ständig wachsenden Einfluss von Hollywoods Traum- und Alptraummaschine dafür verantwortlich zu machen?

Was den Buchmarkt angeht, haben sich natürlich auch dort einige amerikanische bzw. britische Titel als extrem einflussreich erwiesen. John Grisham, Tom Clancy, Dan Brown, die »Harry Potter«, »Twilight« und »Hunger Games«-Reihen haben auch in der deutschen Popkultur tiefe Spuren hinterlassen.

Aber auch das kann kaum ein Grund dafür sein, dass es der einheimischen Autorenschaft offenbar seit Jahren nicht gelungen ist, einen literarischen Schurken zu produzieren, der dem breiten Publikum für länger als eine Herbst- oder Frühjahrssaison im Gedächtnis blieb.

Andererseits scheine ich nicht der Einzige zu sein, der in letzter Zeit Missstände innerhalb der deutschen Gegenwartsliteratur beklagt.

Der Autor Florian Kessler, 32, der in Hildesheim Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus studierte, konstatierte vor kurzem bei »Zeit-Online«, dass die Texte der jüngeren deutschen Literatengeneration von einer frustrierenden Beliebigkeit geprägt seien.

Kessler nennt Gründe für seine These, dass die deutsche Literatur zu zahnlos und verwechselbar geworden sei.

Er führt zunächst eine unheilige Dreifaltigkeit aus Verlagslektoren, Buchhandelsketten und einflussreichen Literaturagenturen an, die angeblich einen Marktdruck hin zur Beliebigkeit aufbauen, dem man als deutsche JungautorInnen besser folgt, will man mit Erfolg verlegt werden.

Obwohl immer mehr neue Titel auf den Buchmarkt geworfen werden, so Kessler weiter, bestimmte eine immer geringer werdende Zahl von Entscheidungsträgern darüber, welche dieser Titel zum Erfolg »gepusht« würden. Der Jungautor, der an diese elitäre Gruppe »andocken« will, meint Kessler, zählt besser selbst zu einer Elite, die aufgrund von ihrem familiären und finanziellen Hintergrund von jener Entscheidungselite als gleichwertig anerkannt werde.

Die Beschwerden darüber, wie schwierig es für aufstrebende Autoren sei, sich in die kulturelle Entscheidungsträgerelite zu mischen, sind allerdings so alt wie der Buchmarkt selbst. Die Zugangspforten in das Zauberreich der literarischen Entscheidungsträger mögen sich ja in den letzten Jahren tatsächlich verkleinert haben, aber ganz geschlossen haben sie sich eben auch nicht.

Schon einleuchtender erscheint mir Kesslers zweites Argument in seinem Artikel. Denn er sieht einen der Hauptgründe für die Beliebigkeit neuer deutscher Literatur in den Autoren selbst: Die, aus Furcht bei den Entscheidungsträgern womöglich anzuecken, jedes mögliche Aufregerthema in ihren Arbeiten gleich von vornherein vermeiden.

Kessler behauptet außerdem, dass die deutschen Literatenschmieden in Hildesheim und Leipzig vor Arzt-, Professoren- und Anwaltskindern nur so überfließen.

Ich sträube mich dagegen, die deutsche Gegenwartsliteratur als Tummelplatz für duckmäuserische JodeldiplomträgerInnen zu betrachten, aber Kessler ist in dieser Subszene eindeutig besser integriert als ich. Daher bin ich in meiner Skepsis an seiner Bestandsaufnahme womöglich zu naiv. Vielleicht haben ja wirklich längst die Totenglocken in die (Medien-)Stille hinein geläutet, und ich habe sie nur nicht vernommen?

Wer also meint, dass es für die deutsche Gegenwartsliteratur noch nicht ganz zu spät sein kann, aber den der Niedergang fiktiver Schurken aus deutschen Federn ebenso sehr verwundert wie mich, der ist herzlich aufgefordert, sich mit mir auf einen Kurztrip zur Dark Side zu begeben – zu den Gedankenwelten, Taten, Ursprüngen und Sehnsüchten einiger der einflussreichsten fiktiven Schurken der Populärkultur des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts.

Womöglich findet der eine oder andere ja dabei eine Anregung zur Gestaltung seines eigenen nächsten Bösewichts.

II. Satan und Statistik – Definitionen des Bösen in der Fiktion

Das BöseDie ersten Probleme beginnen schon beim Geschlecht des Bösen. Oder anders: Hat das Böse überhaupt ein Geschlecht?

Eine Menge reale Schurken waren immerhin männlich. Das fängt an bei Attila dem Hunnen und Dschingis Kahn, um in den Herren Hitler, Eichmann, Stalin, Pol Pot und Saddam Hussein vorläufige Höhepunkte zu erreichen. Die überwiegende Anzahl von Gewalttätern ist männlich. Nur 0,6 Prozent aller Täter in Sicherheitsverwahrung, der heftigsten Strafform in Deutschland, sind weiblich. Und auch unter den angeblich 61 in der Bundesrepublik als Serienmörder qualifizierten Tätern finden sich nur ganze 7 weiblichen Geschlechts. Sowieso neigen Männer statistisch deutlich häufiger zu exzessiver Gewalt als Frauen. Und übertriebene Gewaltanwendung ist schließlich eines der Merkmale des Bösen, oder? Sogar die Verhaltenspsychologie erhärtet also die These vom männlichen Geschlecht des Bösen.

Satan (zumindest in der Form, in der die katholische Kirche ihn bevorzugt) ist der einflussreichste fiktive Schurke der westlichen Zivilisation und – männlich. Dracula und der, »dessen Name (in den Harry Potter Büchern) nicht genannt werden darf« – männlich. Die meisten Mörder im TV-Tatort sind männlich, und dasselbe gilt für die Killer und Erpresser in anderen TV Serien und Filmen. Der wahrscheinlich bekannteste Filmschurke des späten 20. Jahrhunderts, nämlich Hannibal »The Cannibal« Lecter, ist ein Mann. Dasselbe gilt für Darth (»I am your father«) Vader aus den »Star Wars« Filmen. Das fiktive Böse scheint genauso vorwiegend männlich zu sein wie seine realen Vorbilder.

Aber was ist das eigentlich, das Böse? Wie definiert sich ein Schurke?

Die Antwort darauf ist in der Realität so komplex, dass die begabtesten Denker des Abendlandes noch keine rundum gültige Antwort darauf zu liefern vermochten.

Da wir uns hier jedoch auf das fiktive Böse in der Populärkultur beschränken, sparen wir uns einen Tieftauchgang in die Philosophie und stellen zunächst fest: Ein Schurke kennzeichnet sich dadurch aus, dass er anderen aus rein selbstsüchtigen Motiven Schaden zufügt und sich dessen dabei auch klar bewusst ist.

Das Böse setzt also zumindest in der Fiktion eine Entscheidung voraus, den freien Willen eines Protagonisten, etwas nach allgemein gültigen moralischen Wertmaßstäben Verwerfliches und Verachtenswertes zu tun. Daher gilt: Was den Schurken vor allem zum Schurken qualifiziert, sind gar nicht so sehr verwerfliche Taten, sondern die Motive, welche hinter diesen Handlungen stehen.

III. Blut für Dollars – Paradebeispiele fiktiver Bosheiten

Patrick Bateman, der frauenmordende Serienkiller aus Bret Easton Ellis »American Psycho«,darf nach dieser Definition als böse gelten. Das Motiv für seine Morde: eine Mischung aus Größenwahn, Sextrieb und Langeweile. Und auch Hannibal Lecters Motiv für insgesamt 14 Morde lag angeblich in sexueller Lust, wenn auch nicht unbedingt am Tötungsakt an sich, sondern eher dem darauf folgenden Verspeisen seiner Opfer. Was speziell ihn zu einem so einflussreichen Superschurken innerhalb der Popkultur macht, scheint sein komplexer Charakter zu sein, der sich in seiner überragenden Intelligenz, (paradoxerweise) seinem Sinn für Höflichkeit, aber vor allem seiner beißenden Ironie manifestiert.

Auch der Joker aus »The Dark Knight« qualifiziert sich mühelos für die Kategorie Superschurke mit unbegrenztem Haltbarkeitspotenzial in der Populärkultur. Er macht gar keinen Hehl daraus, dass sein Ziel darin besteht, Batmans Heimatstadt Gotham City ins Chaos zu stürzen. Einfach, weil es ihm so gefällt und er über die Möglichkeit dazu verfügt. Er folgt dabei einem grauenhaften Spieltrieb, der sich in einer Lust an der Zerstörung um der der bloßen Zerstörung willen äußert und den der Joker nur um seiner selbst willen auslebt. Gotham City steht dabei als Substitut für New York.

Batmans Butler Alfred erfasst den Charakter des Joker korrekt, als er über ihn sagt: »Some men aren’t looking for anything logical, like money. They can’t be bought, bullied, reasoned, or negotiated with. Some men just want to watch the world burn. – Manche Männer sind nicht hinter irgendetwas Nachvollziehbarem her wie z. B. Geld. Sie können nicht gekauft oder eingeschüchtert werden, man kann mit ihnen auch nicht verhandeln. Manche Männer wollen die Welt einfach nur brennen sehen.«

Patrick Bateman ist verglichen mit Lecter und dem Joker aus »The Dark Knight« insoweit ein Sonderfall, dass er deutlicher als Hannibal und der Joker eigentlich eine Allegorie auf konkrete soziale Zustände seines Entstehungszeitalters darstellt. Tagsüber ist Bateman ein bewunderter Investment-Banker, der sich dafür feiern lässt, die Lebensgrundlagen der Leute zu zerstören, deren Firmen er ruiniert. Firmen finanziell zu ruinieren ist ein ziemlich abstrakter Akt von Zerstörung, der Bateman nur mit den Mitteln versorgt, seiner wahren Leidenschaft nachzugehen. Nach Einbruch der Dunkelheit geht er nämlich den einen Schritt weiter, indem er der abstrakten sozialen und finanziellen Zerstörung, aus der sein Arbeitsalltag besteht, die konkrete physische hinzufügt, die mit seiner nächtlichen Leidenschaft für das Abschlachten junger Frauen einhergeht. Seine bevorzugten Opfer sind schön, reich und gebildet. Er zerstört und demütigt, was jeder männliche Vorortspießer bewundert, begehrt und beneidet. Im Grunde hat Patrick Bateman keine Seele – er ist eigentlich ein leeres Gefäß, einzig bestimmt von Urtrieben und kaum fähig, über sich und seine Taten ernsthaft zu reflektieren. Bei all dem ist er aber auch provozierend ehrlich und – mutig.

Dagegen wirkt unser nächster Schurke, Gordon Gekko, der skrupellose Börsenhändler aus Oliver Stones »Wall Street«-Filmen, fast wie ein zahnloser Wicht. Patrick Bateman bekennt ganz offen: »I like to dissect girls. Did you know I am utterly insane? – Ich mag es, Mädchen zu zerstückeln. Ich bin absolut wahnsinnig, weißt du.«

Gordon Gekkos Ansage, die sich bis heute im Publikumsgedächtnis hielt, lautet: «The point is ladies and gentlemen that greed, for lack of a better word, is good – Der Punkt, meine Damen und Herren, ist, dass Gier in Ermangelung eines besseren Begriffs einfach gut ist«. Neben Batemans Bekenntnis klingt das beinah wie Smalltalk-Blubber. Und weil er einmal im Leben jemandem vertraute, wandert Gordon Gekko am Ende des ersten »Wall Street«-Films dann auch ins Gefängnis. Die Haltung, die er dabei an den Tag legt, schwankt zwischen Erstaunen und Selbstmitleid. Patrick Bateman geht zum Ende von »American Psycho« in einen neu eröffneten Nachtclub, um banale Konversation mit Leuten zu treiben, von denen er weiß, dass die genauso leer und im Grunde nichtssagend sind wie er selbst. Doch wir wissen im Gegensatz zu seinen Tischgenossen – da existiert etwas, das ihn zwischen all der Hohlheit an dem Tisch sehr wohl heraushebt, nämlich sein verstörender Drang zum Mord.

Trotzdem hat auch Gordon Gekko als Schurke seine Meriten. Er ist wie Bateman eine Allegorie auf bestimmte politische und soziale Zustände. Die Figur Gekko ist allerdings subtiler und schattierungsreicher gestaltet als Bateman. Männer vom Schlage eines Gordon Gekkos trifft man auf jedem realen Börsenparkett der Welt, wohingegen sich nach allgemeiner Lebenserfahrung serienmordende Investmentbanker selbst an einem Ort, der Gier zur Tugend erhebt, deutlich rarer machen.

Was an Bateman das Publikum seit Jahrzehnten zugleich sowohl abschreckt wie fasziniert ist die Unverfrorenheit, mit der er abstrakte Zerstörung mit blutig konkreter verbindet und dafür zum Ende in einer Hölle landet, die zunächst eher einem Paradies gleicht.

Obwohl Clarice Starling irgendwann in »Schweigen der Lämmer« behauptet, es gebe keinen Begriff für das, was Hannibal eigentlich ist, kann man davon ausgehen, dass sowohl Bateman als auch Hannibal, der Joker und Gordon Gekko nicht aus dem Nichts in der Populärkultur auftauchten, sondern über Wurzeln verfügten, die viel älter sind, als sie selbst.

IV. Having friends for dinner – Wurzeln populärer Scheusale

Hannibal ist zwar ein kaltblütiger, reuloser Killer, doch hat er eben auch einen ausgeprägten Sinn für Ästhetik und Poesie. Bateman ist kein Ästhet von Hannibals Kaliber, aber er ist von Äußerlichkeiten geradezu behext. Ein gutes Viertel von Bret Easton Ellis Roman besteht aus Aufzählungen der Marken von Batemans Kleidern, Stereoanlagen, Autos und den In-Charts der Luxusclubs, die er besucht.

Die Faszination mit Ästhetik und Äußerlichkeiten bringt Hannibal und Bateman in die Nachfolge solch eleganter Monster wie Bram Stokers »Dracula« und Oscar Wildes »Dorian Gray«. Außerdem sind Hannibal und Bateman fiktive Serienkiller. Eben dieser Aspekt verbindet sie mehr noch als ihr offensichtlicher Narzissmus mit den Ursprüngen der uralten Vampir– und Werwolfvolkssagen.

Nahezu alle entwickelten Kulturen kennen eigene Formen dieser Gestaltwandler und Blutsauger. Führende Anthropologen und Psychologen vertreten daher seit längerem die These, dass die Vampir- und Werwolfgestalten auf realen Serienmördern beruhten, deren Taten und Erscheinung sich im Laufe der Jahrhunderte zu solch übernatürlichen Wesenheiten verdichteten.

In Hannibal Lecters Fall kommt eine weitere Facette seines Charakters hinzu. Hannibal ist ja nicht nur ein intelligenter Ästhet und Mörder, das sind SS-Offiziere in Kriegsfilmen oftmals auch. Hannibal ist eben auch Kannibale. Kannibalismus ist eines der universellen Tabus und eine Verhaltensweise, die man von jeher Wilden andichtete. Wer Menschenfleisch aß, machte sich damit zum Barbaren. Solche Barbaren standen bei unseren Vorfahren auf der Stufe von wilden gefährlichen und machtvollen Tieren. Hannibals Verhältnis zu Clarice Starling, der von Kindheitstraumata geplagten FBI-Agentin, weist Ähnlichkeiten mit dem alten Märchen von der Schönen und dem Biest auf. Im Märchen erlöst die Liebe und Gnade der edlen Schönen das hässliche Biest. Wenn Hannibal in »Schweigen der Lämmer« Clarice dazu zwingt, sich ihrem Kindheitsalptraum zu stellen, dem Schlachten der Frühlingslämmer auf der Farm ihres Onkels, so ist es ironischerweise er in seiner symbolischen Rolle als Barbar, Wilder und Biest, der die Schöne von dem Fluch erlöst. Zähmen lässt er sich nicht, wie die letzte Szene in Buch und Film beweist.

Doch auch Gordon Gekko passt in die Reihe der fiktiven Schurken, die ihre Wurzeln in Vampir- und Werwolfsagen haben.

Gekko vergießt in den »Wall Street«-Filmen zwar kein Blut und begeht auch keinen Mord. Doch er ist so besessen von seiner Gier und geht derart skrupellos seinen Deals nach, die ja mit Vernichtung von Existenzen einhergehen, dass er zumindest im metaphorischen Sinn durchaus als Vampir, als »Blutsauger« durchgehen kann. Mehr und immer mehr Reichtum anzuhäufen ist Gekkos Grundbedürfnis, genauso wie es das Grundbedürfnis eines Vampirs ist, sich mit Blut zu versorgen. Gekkos Dollars fungieren als Substitut für Blut. Er hat als Figur außerdem mindestens ein Aktienpaket in der antiken Sagengestalt des König Midas, der so dumm war, von den Göttern die Gabe zu fordern, dass alles, was er berühre, sich zu Gold wandelt. Am Ende verhungert und verdurstet er. Die Götter nahmen Midas’ Wunsch für seinen Geschmack eindeutig zu wörtlich.

Der Joker hingegen ist eher mit dem nordischen Gott Loki verwandt, der für Chaos und gefährlichen Unfug steht, die er unter den Göttern in Walhall und den Menschen in Midgard stiftet. In Ragnarök, dem letzten Akt der nordischen Göttermythen, ist es Loki, der schließlich den Untergang der Götterwelt einläutet, so wie der Joker angetreten ist, den letzten Akt Gothams einzuläuten.

Hannibal, Bateman, Gekko – ihnen allen wird von ihren Autoren eine Vergangenheit mitgegeben. Ihre persönliche Entwicklung bis zu dem Punkt, an dem wir ihnen begegnen, wird zumindest skizziert. In »The Dark Knight« jedoch weist man gleich mehrmals daraufhin, dass der Joker scheinbar aus dem Nichts auftauchte. Es existieren keine Spuren von ihm innerhalb von Gothams Bürokratie. Er ist wie ein Gott plötzlich in die Welt von Gotham City eingefallen, um dort Chaos und Zerstörung zu säen.

Der Joker ist verwandt mit Shakespeares Jago aus »Othello«, dem Erzschurken der Bühnengeschichte.

Jago entscheidet sich dazu, das, was andere als böse betrachten, als sein Gutes anzusehen. Und wie im Fall des Jokers sind Jagos Motivationen für seine bösen Taten eher abstrakt. Obwohl er einige Male durchblicken lässt, dass er den General und Volksliebling Othello verachtet und irgendwie auch um dessen Erfolg und Ansehen beneidet, ahnt der Zuschauer – das kann nicht alles sein, was Jago antreibt. Seine genannten Motive klingen nach Ausreden. Jago ist viel zu intelligent, durchtrieben und skrupellos, um nicht aus eigener Kraft Karriere machen und eine Frau wie Othellos Desdemona erobern zu können. Nein, im Grunde ist Jago Nihilist und fasziniert vor allem von sich selbst und den ungeahnten Möglichkeiten, die mit seiner bewussten Entscheidung zum Bösen einhergehen. Jago ist wirklich und wahrhaftig ein Monstrum im ursprünglichen, antiken Sinn des Begriffs – nämlich: unabhängig, losgelöst, selbstgenügsam.

Doch er hat im Gegensatz zum Joker eine Vergangenheit und steht in einem weit verzweigten Netz aus Beziehungen und Hierarchien. Der Joker aber ist allein, und er will es auch gar nicht anders, denn fröhlich verrät er jeden, der sich mit ihm zu verbünden und ihn in ein System einzubinden versucht. Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass er den mythologischen Göttern näher verwandt ist als jede andere bisher hier aufgeführte Schurkengestalt.

Hannibal, der Joker, Bateman und Jago sind – bei allen Unterschieden – auch unabhängig und alleinige Herren ihres Schicksals. Unabhängigkeit stellt ein entscheidendes Merkmal von Schurkenfiguren dar, die beim Publikum erfolgreich sind.

Hannibals faszinierend düsteres Charisma steigert sich sogar noch, sobald man ihn in eine Zelle sperrt, weil man nicht nur ahnt, sondern weiß, dass dieser Mann intelligent und phantasievoll genug ist, um irgendwann daraus auszubrechen. Und sei es nur in Gedanken. Zumal die Gefangenschaft Hannibal ja nicht einmal am Morden hindern kann, wie Anstaltsdirektor Chilton zugeben muss, als Agentin Clarice Starling Hannibal zum zweiten Mal in seiner Zelle besucht.

Das Böse, soweit bis hierher analysiert, bedingt also eine frei bewusste Entscheidung zum Bösen hin. Schurken definieren sich durch ihre Motive, welche wiederum aus ihrer freien Entscheidung zum Bösen resultieren.

Ein weiteres Element verbindet sämtliche fiktiven Superschurken gleich welchen Ursprungs: Sie dienen dem Autor als willkommenes Sprachrohr für allerlei unbequeme Wahrheiten. Als Faustregel kann gelten, dass je ehrlicher und tabulos diese Wahrheiten dem Schurken vom Autor in den Mund gelegt werden, umso besser für die nachhaltige Popkulturqualität des Schurken. Gelungene Schurkenfiguren nehmen sich heraus umzusetzen, wovon moralisch verantwortliche Normalbürger kaum zu träumen wagen. Weder Hannibal, Bateman, Joker oder Jago sind feige. Jeder von ihnen riskiert gleich bei mehreren Gelegenheiten seine Haut. In Jagos Fall mag Mut unpassend scheinen, da dessen bevorzugte Technik zur Vernichtung Othellos in hinterrücks gestreuten Gerüchten und Einflüsterungen besteht. Doch muss man Jago zugestehen, dass es Mutes bedurfte, seine Intrigenmaschinerie überhaupt in Gang zu setzen.

Kein Schurke, der sein Geld an der Kinokasse oder im Buchladen wirklich wert ist, darf sich vorwerfen lassen, inkonsequent in seinen Zielen oder Mitteln zu sein und diese etwa leichtherzig aufzugeben.

Hannibal wollte seine Freiheit oder zumindest einen Ausblick auf Bäume, einen See, Fluss oder das Meer – er endet als freier Mann auf einer Karibikinsel.

Jago wollte Othello diskreditiert und vernichtet sehen – Othello wird zum Mörder an seiner geliebten Desdemona und verliert damit alles, was ihm je etwas bedeutet hat: seine Frau, seinen Ruf, seine gesellschaftliche Stellung.

Gordon Gekko wandert am Ende von »Wall Street« zwar ins Gefängnis, aber das Publikum weiß an dem Punkt genug über seinen Charakter, um sicher zu sein, dass der Knast nicht das Ende von Mister Gekko sein kann. Auch Patrick Bateman endet genau dort, wo er hingehört und sich wohl fühlt – beim hohlen Smalltalk in einem schicken Nachtclub. Doch ähnelt der nicht zufällig einem der neun Höllenkreise Dantes. Der Joker wird von Batman zwar besiegt; aber er drückt dem dunklen Ritter auch seinen Stempel auf, indem er diesem unmissverständlich klar macht, dass er sich niemals zu den Guten, Reinen, Schönen zählen darf, da er dazu bereits zu oft und zu lange auf der dunklen Seite von Gesetz und Moral gewandelt ist. Mit anderen Worten beginnt mit Jokers Abschied eine psychologische Bombe sowohl in Batman als auch dessen Stadt zu ticken.

Je herausfordernder die Taten und Aussagen des Schurken ausfallen, desto eindrucksvoller wirkt er aufs Publikum. Das gilt auch stilistisch. Die coolsten Zeilen im Dialog reserviert ein raffinierter Autor immer zuerst für seinen Schurken. Der Joker zu einem Bankdirektor, den er eben angeschossen hat: »I believe whatever doesn’t kill you simply makes you stranger – Ich glaube, alles, was dich nicht umbringt, macht dich einfach nur merkwürdiger«. Das erfreut in seiner paradoxen Stimmigkeit sicher nicht nur Nietzsche-Fans.

Gordon Gekko darf in »Wall Street« einem breiten Publikum die ehrwürdige Bankerweisheit servieren: »If you need a friend – get a dog – Wenn du einen Freund brauchst – kauf Dir einen Hund«.

Hannibal wiederum beendet sein letztes Telefonat mit Clarice Starling so: »I am having an old friend for dinner – Ich habe einen alten Freund zum Abendessen« (Ein Wortspiel, das im englischen besser funktioniert, als im deutschen, da »having for dinner« eben auch bedeuten kann, dass Hannibal seinen alten Freund nicht nur zum Essen eingeladen, sondern eben auch in Teilen gebraten und gewürzt auf dem Dinnerteller haben könnte. In Hannibals Fall fällt die Entscheidung, welche der beiden Möglichkeiten zutrifft, andererseits auch nicht wirklich schwer). Er sagt das ausgerechnet in dem Moment, als der aufgeblasene Anstaltsdirektor Chilton aus einem Propellerflugzeug steigt und an Lecters Telefonzelle vorbeigeht.

Jagos charakteristischste Dialogzeile in »Othello« ist damit verglichen auf den ersten Blick beinah banal. Aber aus dem Mund eines Schurken, der sich aus freiem Willen zum Bösen entschloss, immer noch gruselig genug: »Unser Körper ist ein Garten und unser Wille der Gärtner …«

Fazit bisher: Gut erdachte Schurken sind per se Tabubrecher, sie sind mutig, sie sind konsequent, sie haben sich aus freiem Willen zu ihren Untaten entschlossen – und sie sind vor allem niemals langweilig.

V. Zombies und andere Vögel – Typen des Bösen in der Popkultur

Das BöseHannibal, Bateman und Gordon Gekko basieren auf Vampir- und Werwesen-Folklore. Sie verbindet, dass sie von einem (irrationalen) Zwang beherrscht werden, dass sie Besessene sind. Figuren wie Jago und den Joker, deren Ziele und Motive in der Regel abstrakter sind als die der Vampir- und Werwolfmutationen, wurzeln in der antiken und nordischen Göttermythologie.

Daneben existieren jedoch mindestens drei weitere Schurkenkategorien in der Populärkulturfiktion, nämlich der Doppelgänger, die Naturgewalt und der Typ des administrativen Schurken.

Der Doppelgängertypus, obwohl auf Zwillingsfolklore beruhend, wurde von Edgar Allan Poe in der Shortstory »William Wilson« aufs literarische Tapet des 19. Jahrhunderts gebracht und hatte direkten Einfluss auf Robert Louis Stevensons »Jekyll and Hyde«-Novelle, die das moderne Horrorgenre begründete.

Oft genug standen Dr. Jekyll und Mister Hyde seither für einen Plot Pate ohne, dass die Verwandtschaft zum Londoner Doktor Jekyll und dessen monströser dunklen Inkarnation Mr. Hyde gleich offensichtlich als eine solche identifizierbar ist. Aber wann immer in irgendeinem zeitgenössischen Krimi oder Thriller sich der bislang so sympathische, verständnisvolle und hilfsbereite Nachbar, Kollege, Lover oder sogar Ermittler plötzlich als serienmordendes Ungeheuer entpuppt, dann darf man davon ausgehen, dass diese Wendung der Geschichte eine Verbeugung in Richtung des berühmten Schotten aus Edinburgh darstellt.

Die Grenzen des Doppelgänger-Schurken zum tragischen Helden – der per se ja nicht böse ist, sondern sich eben in einem Dilemma befindet, das zuweilen verwerfliche Lösungen erfordert – sind übrigens recht fließend. Dieser Jekyll-und-Hyde-Schurkentyp wird auch mit dem Begriff »gespaltene Persönlichkeit« bezeichnet. Norman Bates, immerhin neben Hannibal sicherlich der einflussreichste Killer der Populärkultur der letzten fünfzig Jahre, ist in seiner Doppelrolle zwischen schüchternem Motelbetreiber und Killer eine psychisch gespaltene Persönlichkeit, aber eben in dieser Dualität genauso auch ein moderner Jekyll und Hyde-Ableger.

Alfred Hitchcock, der Regisseur von »Psycho«, hat auch den klassischen Film geliefert, in dem einem Naturphänomen die Rolle des Schurken zugewiesen wird. Er heißt »Die Vögel« und basiert wie »Psycho« auf einer literarischen Vorlage. (»Psycho« ist ein Roman Robert Bloch und »Die Vögel« eine Shortstory von Daphne Du Maurier)

Naturphänomene in Schurkenrollen zu subsumieren – das hat zunächst einen absurden Beiklang. Aber genau dieses Gefühl von Absurdität ruft den unheimlichen Überraschungseffekt hervor, auf den es Filmen und Büchern dieses Typs ankommt. Wozu Hannibal und Co ihren freien Willen bemühen müssen, etwas nach menschlichen Vorstellungen Verwerfliches anzurichten, das kann Naturgewalten ohne jede Motivation, ja sogar ohne jeglichen konkreten Anlass zugeschrieben werden.

Das Grauen, welches Hitchcocks »Vögel« erzeugen, beruht darauf, dass darin bislang als völlig harmlos und den Menschen sogar generell unterlegen eingestufte Wesen plötzlich einen mörderischen Amoklauf beginnen. Wir erfahren ja auch nicht, ob irgendein konkreter Auslöser für diesen Amoklauf existierte. Die Vögel in dem Küstenstädtchen Bodega verhalten sich schon seit einiger Zeit »strange – seltsam«, wie ein Fischer berichtet. Das ist alles, was wir im Film über sie hören, bevor sie plötzlich damit beginnen, harmlosen alten Farmern die Augen auszupicken.

Ein anderes Beispiel für Naturphänomene in Schurkenrollen gibt Jose Saramagos Roman »Stadt der Blinden«, in dem eine unerklärliche Blindheit plötzlich über die Bewohner einer namenlosen Metropole fällt. Saramago schickt die einzige darin verbliebene Sehende auf einen Horrortrip durch die der Anarchie verfallene Stadt. Zitat aus dem Buch: »Das Einzige noch Furchterregender, als blind zu sein, ist, als Einzige sehen zu können«.

In die Kategorie der Naturgewalten in Schurkenrollen fallen übrigens auch die Zombiefilme, Romane und TV-Serien. Zombies entstehen durch Infektionen oder eben den Biss eines Infizierten. In aller Regel treten Zombies, wie Hitchcocks »Vögel«, in aggressiven Massen auf, die den Helden angreifen und zu bestimmten Entscheidungen und Taten zwingen. Sie fallen über die Gemeinschaft der Lebenden herab wie eine mittelalterliche Pestplage.

Bleibt noch ein (vorerst) letzter Typus des Schurken zu behandeln, nämlich der des administrativen Bösewichts. Er wird entweder vom Willen zur Macht (sprich: Ehrgeiz) getrieben oder setzt sich für die Erhaltung eines bereits etablierten und durch den positiven Helden in irgendeiner Weise bedrohten Systems ein. Wann immer man in der Fiktion auf einen fiesen Geheimdienstchef, Agentenführer, Präsidenten, Diktator oder Schuldirektor trifft, stehen die Chancen gut, dass es sich bei ihm um einen Vertreter des administrativen Schurkentyps handelt.

Seine Mittel sind in der Regel subtil, aber auch feige. Er scheut zwar auch vor Folter und Gewalt nicht zurück, doch bevorzugt er Mittel wie Verleumdung, Lügen und Intrigen. Oft wird er als Teil einer unüberschaubaren, kafkaesk angehauchten und mysteriösen Bürokratie dargestellt, für deren Unmenschlichkeit und/oder Absurdität er als Symbolfigur fungiert. Als sein generelles Motto könnte »Der Zweck heiligt die Mittel, und zwar immer« stehen.

Eines der Popkulturparadebeispiele für einen solchen administrativen Schurken ist O’Brien, der Doppelagent der »Gedankenpolizei« aus George Orwells Roman »1984«. Das für Agent O’Brien charakteristischste Zitat stammt aus einem Dialog, den er mit Winston Smith, dem tragischen Helden des Romans führt. O’Brien erkundigt sich dort bei Winston, was dessen Gefühle dem Parteidiktator »Big Brother« gegenüber seien. Als Winston Smith aufrichtig bekennt, Big Brother zu »hassen«, entgegnet O’Brien: »Du hast ihn zu lieben. Es ist nicht genug ihm nur zu gehorchen. Du musst ihn lieben«.

Aus O’Briens absurder Forderung, Winston sollte Big Brother lieben, wird ein wichtiger Charakterzug eines überzeugenden administrativen Schurken deutlich: Sein Denken ist abstrakt. Wenn O’Brien von Liebe spricht, meint er damit nichts, was Liebe im gewöhnlichen Sinn des Wortes gleicht, sondern eine so absolute Unterwerfung Winstons, dass sie seiner völligen Selbstaufgabe gleichkommt. Die Wurzeln des administrativen Schurken sind weder folkloristisch noch mythologisch, sondern liegen in der Lebenswirklichkeit der frühen Moderne und dem Aufkommen der Bürokratie, besonders im Frankreich des 18. Jahrhunderts.

Mit einem zweiten schillernden Beispiel eines administrativen Schurken warten die Harry Potter Romane auf. Dieser ganz besondere Schurke liebt Spitzenplatzdeckchen und Katzenbildchen und ist – endlich, endlich – eine Vertreterin der auffallend seltenen Subspezies der weiblichen Bösewichte. Ihr Name: Dolores Umbridge. Ihre Funktion: Erste Untersekretärin im Zaubereiministerium, später wird sie zur Quasi-Diktatorin von Harrys Internatsschule Hogwarts. Dolores’ charakteristisches Zitat lautet: »Progress for the sake of progress must be discouraged – Fortschritt um des reinen Fortschritts willen ist zu unterdrücken.« Eine große Anzahl, wenn auch nicht alle, administrativer Schurken vertreten reaktionäre oder zumindest wertkonservative Ideen.

In der Verfilmung sieht Dolores aus wie eine etwas verrutschte Kopie der Queen, trägt bevorzugt pinke Kostümchen und dekoriert ihre Wohnung mit jenen kitschigen Katzenbildchen auf Porzellanwandtellern, die zu einem ihrer Wahrzeichen werden. Dolores hat die ganz tiefen Teller nicht erfunden, aber sie ist geübt in der Handhabung ihrer schärfsten Waffe: Der zunehmend absurderen Vorschrift. Kurz vorm Ende ihrer diktatorischen Herrschaft über Hogwarts hat sie Schüler und Lehrkörper mit so vielen verschiedenen Erlassen traktiert, dass sie selbst den Überblick darüber zu verlieren droht.

Dolores’ Motiv ist, den Machterhalt eines bestehenden Systems zu sichern und dabei (vermutlich) selbst möglichst noch einige Karrierestufen innerhalb des mächtigen Zaubereiministeriums zu erklimmen. Insofern ist sie eine sehr typische administrative Schurkin. In einer sehr englischen Art von bösem Humor ist Dolores Umbridge auch als Satire auf O’Brien und Big Brother aus Orwells »1984« zu verstehen. Zwar darf man sie als Gegnerin nicht unterschätzen, doch fehlt ihr (sicher ganz bewusst) jene brutale Raffinesse, die O’Brien und das System, für das er steht, in »1984« auszeichnet. Erfunden wurde die »pinke Tyrannin« Dolores selbstverständlich von J.K. Rowling  – einer Frau. Was Dolores so aus der Menge anderer Popkultur Schurken heraushebt ist, dass sie äußerlich zwar mit allen Attributen einer Dame ausgestattet ist, die Miss Marples harmlosere Schwester sein könnte, doch sich darunter eine Persönlichkeit verbirgt, deren Taten und Motive eben bewusst jedem althergebrachten Klischee über nette ältere Damen zuwiderlaufen.

In den letzten Jahren scheinen die Darstellungen administrativer Schurken in der Populärkultur wieder zuzunehmen, was möglicherweise Ausdruck eines von der Politiker- und Bürokratenkaste mehr und mehr enttäuschten Publikums sein könnte. Der neueste administrative Schurke, dem man einen bleibenden Eindruck in der Popkultur zutrauen dürfte, ist Präsident Coriolanus Snow aus Suzanne Collins »Hunger Games«- Trilogie.

VI. Die Angst der Anderen – Schurken in ihrer Welt

Der Joker bringt eines der entscheidenden Gesetze für die Gestaltung faszinierender Schurken ironisch auf den Punkt, wenn er sagt: »Introduce a little anarchy. Upset the established order, and everything becomes chaos. I’m an agent of chaos. Oh, and you know the thing about chaos? It’s fair! – Bring mal ‘n bisschen Anarchie ins Spiel, widersetze dich der etablierten Ordnung, und alles wird chaotisch. Ich bin ein Agent des Chaos. Oh, und weißt du, was das Wichtigste am Chaos ist? Es ist fair!« Das Chaos ist tatsächlich fair – denn es ist, wie Tod und Zufall, willkürlich.

Ein Schurke dient dazu, jene Anarchie und Willkür, jenes Chaos, jenen Zufall in den Plot eines Romans, Drehbuchs, Films einzubringen, mit dem der Handlungsablauf nach der Vorstellung der Charaktere und deren Lebensumwelt überhaupt erst angestoßen wird.

Ganz gleich zu welcher Kategorie der Schurke zählt, ob er mordet, betrügt, verleumdet oder korrumpiert, um seine Ziele zu erreichen: Er muss fürs Publikum innerhalb seiner fiktiven Umwelt glaubhaft sein. Der Joker, Hannibal, Bateman, Gordon Gekko und die pinke Tyrannin Dolores haben sich so erfolgreich im Gedächtnis der Popkultur festgesetzt, weil sie genau das sind: glaubhaft innerhalb ihrer speziellen Welt.

Ein wild um sich schlagender und schießender CIA-Direktor zum Beispiel ist eben NICHT glaubhaft. Jeder Leser mit ein wenig mehr Hirn im Kopf, als ein Zombie zum grunzen braucht, ist sich bewusst, dass Geheimdienstdirektoren vor allem Bürokraten sind, deren Hauptbeschäftigung darin besteht, hinter einem Schreibtisch Papiere hin und her zu schieben, aber eben nicht darin, fitte Agenten mit Einzelkämpferausbildung durch Metroschächte oder über Hochhausdächer zu hetzen. Die Gefahr, die von solchen Schurken für den Helden ausgeht, sollte – um glaubhaft zu sein – vielmehr in deren mysteriöser Machtfülle und ihren Motiven und Zielen bestehen, ihre Bedrohlichkeit sich in Telefonanrufen, Memos und Befehlen an Untergebene oder Verbündete manifestieren statt in wilden Schießereien. Um beim Beispiel eines administrativen Schurken zu bleiben, was eine Figur wie ihn glaubhaft bedrohlich macht, wäre ein Spruch wie dieser, eingebaut vielleicht am Ende eines Dialogs mit einem seiner Unterlinge: »Wahre Macht, mein Freund, bemisst sich immer an der Angst der Anderen«. Vor einem Typ, der einem solchen Motto folgt und noch dazu über die Ressourcen eines der größten Geheimdienste der Welt verfügt, hat jeder Leser unwillkürlich Respekt.

Es ist bestimmt auch keine Schande für einen Autor, sich für seine Schurkengestaltung unter realen Scheusalen umzusehen.

Eichmanns wichtigste Waffe gegen die jüdische Bevölkerung Europas waren nicht die Duschen in Auschwitz oder das Zyklon B, sie bestand noch nicht einmal in den brutalen KZ-Wachmannschaften, sondern den Fahrplänen der Züge, welche auf dem Höhepunkt eines erbitterten Krieges Millionen von Menschen aus allen Teilen des Reiches in die Vernichtungslager transportierten. Will hier irgendwer bezweifeln, dass Obersturmbannführer Adolf Eichmann das bislang gruseligste reale Vorbild für einen administrativen Schurken abgäbe? Nur sollte man ihn dann eben auch als solches Schurkenvorbild ernst nehmen.

Während der Recherche zu diesem Text wies mich ein Freund darauf hin, dass in der Realität »das Reh dem Wolf meist auf halben Wege entgegenkomme«. Und wirklich zeigt sich bei Fällen realer Gewalt, dass es immer mehr als eine Aktion gab, die dazu geeignet war, eine zerstörerische (»böse«) Reaktion herauszufordern.

Für das Problem des Bösen in der Populärkultur angewandt heißt dies: Auch positive Helden brauchen ihre dunklen Seiten. Was den positiven Held in dieser Beziehung vom Schurken abzuheben hat ist, dass ihm bewusst sein sollte, wie gefährlich jene dunklen Seiten in ihm sind.

VII. Wölfe in Schafspelzen – gute Schurken brauchen Zeit

Das BöseDie beschauliche Ostküstenkleinstadt Eastwick an einem Sommertag. Ein Empfang im Rathaus – oder ist es das Heimatmuseum? Die örtliche Hautevolée gibt sich bei Kanapees und Sektflöten ein Stelldichein. Klatsch und Tratsch allenthalben. Hauptthema: Der Fremde, der kürzlich das nahe gelegene Herrenhaus kaufte. Jeder hat von ihm gehört oder will ihn schon getroffen haben, doch seltsamerweise kann sich keiner erinnern, wie er aussah. War er ansehnlich, hässlich, mittelprächtig, jung oder älter? Auch der Namen des Fremden scheint zwar jedem irgendwie auf der Zunge zu liegen, doch aussprechen kann ihn keiner. Verspätet tritt ein neuer Gast herein – und allen fällt urplötzlich der Name des Fremden im Herrenhaus ein: Daryl von Horne. Und genau der war es auch, der gerade herein trat.

Er wird es in Eastwick nicht leicht haben. So beschaulich das Städtchen zunächst scheinen mag, es ist kein Ort für Satan, jenen größten Macho der westlichen Zivilisation. Daryl ist eigentlich der Teufel, und scheint (wie später der Joker in Christopher Nolans Batman-Filmreihe) aus dem Nichts gekommen zu sein. Aber Daryl von Horne kann noch so coole Sprüche klopfen, am Ende wird er von den Heldinnen des Buches, drei sexuell vernachlässigten Frauen, trotzdem unbarmherzig fertig gemacht. Zitat Daryl: »Glaubt ihr, Gott macht Fehler? Und ob er Fehler macht. Wir alle machen Fehler. Nur wenn wir Mist bauen, bezeichnen sie es als Verbrechen und nennen es böse. Wenn Gott Fehler macht, nennt sich das Natur. So, was denkt ihr? FRAUEN … sind FRAUEN einfach nur einer von Gottes Fehlern? Oder hat er uns die etwa mit ABSICHT angetan?”

Es muss nicht unbedingt der ganz große Kracher sein, mit dem der Schurke eingeführt wird. Oft ist in der Beziehung weniger eindeutig mehr. Es ist eine dramatische Todsünde, den Bösewicht zu früh seine wahre Natur enthüllen zu lassen, indem er gleich zu Beginn der Handlung zu heftig auf die Pauke haut. So kommt Daryl van Hornes Wutrede über Gottes Heuchelei auch erst kurz vorm Showdown und findet außerdem nicht zufällig in einer Kirche voller keineswegs reuiger Sünder statt. Gewalt ist zwar auch eine Form von Kommunikation und mag stets für einen Knalleffekt am Storyanfang gut sein. Aber Leisetreter können eben auch Eindruck schinden, wie Daryl van Hornes erster Auftritt in »Die Hexen von Eastwick« beweist.

An einem Sommertag, wie er friedlicher nicht sein könnte, ruft man Jakob, den Sheriff des Städtchens Friendship (!) zur Leiche eines Landstreichers, der seltsam »grün ums Gesicht herum« wirkt. Jakob ist der Held von Stewart O’Nans Roman »A Prayer for the Dying«. WerStewart O’Nan nicht kennt, erwartet angesichts eines Sheriffs in einem Wildweststädtchen vielleicht einen Krimi, der in einem Revolverduell auf der Mainstreet endet. Doch womit Jakob und seine Gemeinde es von da ab zu tun bekommen, ist ein kaltblütiger Killer, gegen den kein noch so treffsicherer Sheriff etwas ausrichten kann. Was den Landstreicher tötete, war eine hochansteckende Krankheit, die sich rasch zur Epidemie auswächst und die beschauliche Kleinstadtgemeinschaft zerreißen und zerstören wird.

Wie Daphne du Mauriers in »Die Vögel« und Saramago mit seiner »Stadt der Blinden« verpflichtet Stewart O’Nan also ein Naturphänomen in die Schurkenrolle seines Romans. Diese Konstruktion erlaubt O’Nan, seinen Helden durch die Hölle und zurück zu führen. Und wir als Leser folgen ihm gebannt auf dem Trip trotz der Tatsache, dass der Autor gleich zu Beginn seines Buchs unsere Erwartungen raffiniert manipulierte. Aber auch O’Nan haut nicht innerhalb der ersten paar Seiten seines Buches auf die Pauke, sondern gestattet seinen Figuren einige Atempausen, bevor sich für die das wahre Ausmaß der Zerstörungsmacht ihres Antagonisten erweist.

Noch einen Schritt weiter geht Pavel Kohout im Spiel mit den Erwartungen des Publikums. Er kombiniert in einem seiner Romane gleich drei Schurken und einen unschuldigen Engel zu einem Konzert des nun wirklich dunkelschwarzen Humors. Doch obwohl eigentlich alle Zeichen zu Einordnung und Charakter seiner Schurken recht schnell offen zu Tage liegen, gibt Kohout sich jede Mühe, den Leser davon zu überzeugen, dass seine Schurken eigentlich gar keine seien. Dieses Doppelspiel macht einen großen Teil des Vergnügens aus, das sein Roman vermittelt.

Die blonde Lizinka hat die Aufnahmeprüfung der Schauspielschule vermasselt, und ihre Abgangsnoten sind fürs Gymnasium nicht gut genug. Lizinkas Intellektuellenvater findet, dass sie sich dann eben vorteilhaft verheiraten sollte. So verführerisch wie Lizinka ist, kein unrealistischer Vorschlag. Nur hat er die Rechnung ohne seine tatkräftige Frau gemacht. Sie setzt alles daran, der hübschen Lizinka doch noch zu einer höheren Schulbildung zu verhelfen. Als sie von einem Ausbildungsplatz erfährt in einem »Spezialfach der humanitären Richtung, dessen Abschluss dem Abitur gleichkommt«, schlägt sie zu. Die Stelle scheint wie auf Lizinka zugeschnitten: Die Bewerberin sollte über angenehmes Äußeres verfügen, charakterlich eher phlegmatisch veranlagt und überhaupt für öffentliche Auftritte geeignet sein. Ansprechpartner ist ein Professor Wolf. Mutter Tacheci glaubt, hinter der etwas undurchsichtigen Ausbildungsbeschreibung stecke eine Stelle als Gerichtsvollzieherin. Vater Tacheci ist skeptischer, wird aber von seiner Gemahlin abgebügelt. Ein Termin mit Wolf wird vereinbart.

Als der Professor erscheint, hat er einen Fahrer und seinen Assistenten Dozent Schimssa dabei. Die drei tragen einheitliche Anzüge, die an die Uniform der nationalen Olympiamannschaft erinnern, und sogar ein eingesticktes Staatswappen aufweisen. Im elterlichen Badezimmer unterziehen der Professor und sein Dozent Lizinka einer seltsamen Eignungsprüfung, die Vater Tachecis Misstrauen erregt. Seine Gemahlin ist jedoch so hingerissen vom charmanten Professor, dass sie die Bedenken ihres Gemahls völlig ignoriert. Als Wolf ihr mitteilt, dass Lizinka die mysteriöse Badezimmerprüfung bravourös bestanden hat, platzt Frau Tacheci beinah vor Stolz und Erleichterung.

Vater Tacheci entdeckt im Badezimmer jedoch einen toten Karpfen und ein aufgeschlitztes Huhn, woraufhin er seine Besucher zur Rede stellt und endlich erfährt für welche Berufsausbildung mit Abitur sich die verführerische Lizinka eben qualifizierte.

Der Titel von Kohouts Roman lautet »Die Henkerin« – und genau dies soll Lizinka auch werden: Die erste weibliche Vollstreckerin der Welt, ausgebildet in der ersten Henkerakademie überhaupt.

Vater Tacheci ist außer sich. Doch der galante Wolf hält ihm einen Vortrag über die »humanistischen Aspekte« des Scharfrichter- und Foltergewerbes, welcher in der Aussage gipfelt, dass es doch wohl besser sei, Torturen und Exekutionen würden von Experten durchgeführt als (im wahrsten Sinne des Wortes) blutigen Amateuren. Der Henker als Gutmensch.

Lizinka wird in Wolfs Akademie der Henker aufgenommen, in der sie nicht nur den übrigen ausnahmslos männlichen Schülern den Kopf verdreht, sondern auch dem Professor und dessen Dozenten. Lizinka ist, wie einer von Kohouts Rezensenten sie bezeichnete, die «perfekte Femme Fatale«. Und in guter Femme Fatale Krimitradition offenbart sie uns ihre wahre Natur denn auch erst im allerletzten Satz des Buches, der sich allerdings in seiner banalen Schärfe gewaschen hat.

Dozent Schimssa (ähnelt sein Name nicht merkwürdig dem Samsas aus Kafkas »Verwandlung«) ist der typische aalglatte Karrierist und ein gelungener Vertreter des administrativen Schurkentyps. Er ist nicht der einzige Schurke dieses Typs, mit dem »Die Henkerin« aufwarten kann, doch will ich mich hier an Wolf halten. Wolf riecht unter seinem edlen Herrenparfum nämlich immer noch ein wenig nach Wald. Auch seine gleich zu Beginn mehrmals thematisierten zusammengewachsenen dunklen Augenbrauen, sein erstaunlicher Sexappeal und seine für einen Mann um die Sechzig außerordentliche Agilität sind kein Zufall. Zusammengewachsene dunkle Augenbrauen, Sexappeal und Agilität bis in ein Alter hinein, in dem die meisten Männer früher gerade noch fürs Ofenhocken taugten, sind in den Volksmärchen und Sagen ein Hinweis auf Gestaltwandler und Werwölfe. Der Mann heißt ja auch noch Wolf.

Im »Schweigen der Lämmer« verrät Thomas Harris dem Leser nichts über Hannibals Herkunft, wir erfahren kein Wort über seine Initiation in die Serienmördergilde (das verrät erst der später erschienene Band »Hannibal Rising«). Kohout hingegen lässt uns in seiner »Henkerin« an dem Moment teilhaben, in dem Wolf zu dem gemacht wurde, was er ist. Als Teil einer Widerstandsgruppe gegen die deutsche Besetzung wird er von der SS gefasst und befragt. Er verrät seine Kameraden und wird von den Deutschen dafür belohnt. Dieser Verrat ist nur der erste in einer langen Reihe weiterer. Er ist der symbolisch überhöhte Biss des Werwolfs, mit dem der einen neuen seiner Art erzeugt. Immer wieder wird Wolf seinen Verrat, seinen Beruf und die bizarre Vollstreckerakademie damit rechtfertigen, dass Verrat, Todesstrafe und Folter nun mal in der Natur des Menschen lägen – genauso wie jeder Werwolf oder Vampir darauf pochen würde, dass das Töten in seiner Natur läge und er dafür ebenso wenig moralisch verantwortlich gemacht werden könnte, wie man einem Krokodil vorwerfen dürfte, dass es an einem Flussufer ein Zebra reißt.

Kohout scheut sich nicht vor dem kalkulierten Spiel mit überlieferten Symbolen und der bewussten Irreführung des Publikums. Ein wenig kriminelle Energie und Betrügermentalität in die Gestaltung ihrer Figuren einfließen zu lassen schadet Unterhaltungsautoren nicht.

VIII. Rehe und Wölfe – im Dickicht der Möglichkeiten

Ganze Bibliotheken sind gefüllt worden, um die Frage zu beantworten, wie man einen faszinierenden Schurken entwirft. Ich will mir nicht anmaßen, etwas bahnbrechend Neues zu dieser Diskussion beizutragen. Aber es gibt einen kleinen Trick, den ich für die Gestaltung meiner Romanschurken stets nützlich fand.

Frage: Welchen der drei unten charakterisierten Herren hätten Sie lieber als Regierungschef? Kandidat Eins, der Verbindungen zu korrupten Politikern pflegte, sich vor wichtigen Entscheidungen astrologisch beraten lässt, zwei Geliebte zugleich unterhält, Kettenraucher ist und bereits nach dem Aufstehen den ersten Martini wegputzt?

Kandidat Zwei, der mehrmals allen Ämtern enthoben wurde, Kette raucht, Alkoholiker ist und selten vor Mittag aus dem Bett kommt?

Oder mögen Sie vielleicht Kandidat Drei, einen dekorierten Frontkämpfer, Nichtraucher und Nichttrinker, der nie außereheliche Affären hatte und sich voll und ganz der Umsetzung seiner Ideale verschreibt?

Die historisch gut zu begründende richtige Antwort müsste lauten: Kandidat Eins oder Zwei. Denn dabei handelt es sich um Franklin Delano Roosevelt bzw. Winston Churchill, während Kandidat Drei ein gewisser Herr Hitler aus Braunau am Inn war.

Und was, fragt sich der verehrte Leser, die verehrte Leserin, hilft das bei der Gestaltung des nächsten Romanschurken? Es hilft erstens, den Schurken in ein dramatisch ausgewogenes Verhältnis zum positiven Helden zu setzen, und zweitens, dessen positiven Seiten herauszuarbeiten. Denn jeder Schurke hat, um fürs Publikum glaubhaft zu sein, eben auch positive und bewundernswerte Charakterzüge aufzuweisen.

Hannibal bringt Agentin Clarice Starling dazu, sich endlich ihrem tiefsten Kindheitstrauma zu stellen, was sie, wie wir als küchenpsychologisch erfahrenes Publikum ahnen, letztlich aus dessen bedrückendem Schatten befreien wird. Der Joker beweist den Mafiadons von Gotham, wie verächtlich und kleinlich deren Gier ist, indem er ihre gesammelten Bargeldvorräte in Flammen setzt. Der Satan, in seiner Inkarnation als Daryl van Horne, darf in der satirischen Kirchenszene dem Publikum die immense Heuchelei des biblischen Gottes vor Augen führen, und die Epidemie, welche Sheriff Jakob in »A Prayer fort he Dying« in den Irrsinns treibt, zeigt auf, dass selbst die zuvor so friedlichen Bewohner Friendships keine Gefangenen mehr machen, sobald es ihnen ans Leben zu gehen droht.

Ein kleines Experiment: Wer verbirgt sich hinter dieser kurzen Charakterisierung? Ein unter seinen engeren Freunden sehr bewunderter, mathematisch überdurchschnittlich begabter, mittelalter Lehrer, mit einer Vorliebe für Schubertlieder? Richtig: Professor Moriarty, der Napoleon des Verbrechens, aus Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes Story »Das letzte Problem«.

Indem ich Moriarty eben gerade nicht als einen zum Größenwahnsinn neigenden Psychopathen zu sehen versuche, kann ich ihn so aus einem anderen Blickwinkel betrachten und Seiten an ihm offen legen, die das Publikum an ihm eher bewundert, statt verachtet.

Die Dozenten in Kreativ-Schreiberkursen behaupten gern, ein professioneller Autor müsse seine Figuren bis hin zu deren jeweiligen Schuhgrößen kennen. Wenn ich mich manchmal durch die neuesten Krimis blättere, habe ich den Eindruck, einige Kollegen nehmen die Gestaltungsregel von der Schuhgröße etwas zu wörtlich und vernachlässigen über solchen Äußerlichkeiten einige der Punkte, auf die es bei der Gestaltung ihrer Figuren wirklich ankommt.

Also ich kenne die Schuhgrößen meiner Figuren nicht, und ich bin sicher, auch viele Kollegen wären mit der Frage nach der Schuhgröße ihrer Figuren überfordert.

Was ich über meine Figuren hingegen sehr genau weiß, sind deren philosophische Einstellung, deren Familienhintergrund und der Grad ihrer Bildung, ob sie zum Beispiel Popmusik oder lieber Klassik hören, wie alt sie sind, wo ihre Ziele im Leben liegen und wie weit sie gehen würden, um die zu erreichen. Was ich außerdem weiß, sind Details und Hintergründe des Zeitalters, in dem ich sie agieren lasse. Das gilt für die positiven Helden ebenso wie für die Schurken.

Wie immer ein Autor es mit den Schuhgrößen seiner Figuren hält: Sollte er die Gestaltung von deren Überzeugung und Zielen vernachlässigen, wird sein Werk die Kenntnis über deren Schuhgrößen auch nicht retten können.

IX. Vampire und Gangster – kein Grund zur Verzweiflung

»Nosferatu«, der erste Horrorfilm überhaupt, war eine deutsche Produktion. Der Schauspieler, welcher darin den Vampir Nosferatu gab, hieß passenderweise Max Schreck. »M – Eine Stadt sucht einen Mörder« von 1931, der erste Serienkillerfilm der Filmgeschichte, war ebenfalls eine deutsche Produktion. »M« nimmt auch im 21. Jahrhundert Platz sechs unter den 100 besten Filmen in der Rangliste der einflussreichen Filmzeitschrift »Cahiers du Cinema« ein.

Mephistopheles, der neben Miltons Satan aus »Paradise Lost« bis heute einflussreichste Teufel der westlichen Literaturgeschichte, wurde erdacht von dem Hessen Goethe, und ein Königsberger Kammergerichtsrat namens E. T. A. Hoffmann schrieb mit »Das Fräulein von Scuderi« die erste Kriminalnovelle der Literaturgeschichte. Friedrich Schiller verfasste mit »Der Verbrecher aus verlorener Ehre« den ersten Kriminalroman.

An einer mangelnden Tradition in den Film- und Buchgenres, die für besonders eindrucksvolle Schurkenfiguren prädestiniert sind, herrscht in deutscher Sprache also kein Mangel. Worauf es ankommt ist, die Tradition dadurch zu ehren, dass wir ihr ein paar neue Glanzlichter hinzufügen.

David Gray

David Gray: Spielt süßer den Tod. Taschenbuch. 2014. Plöttner, Jonas Verlag. ISBN/EAN: 9783955371340  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im BuchhandelWeitere Infos beim Verlag

Über den Autor dieses Artikels

David  Gray (Foto: (c) 2013 Licht und Linse Fotografie, Le)
David Gray (Foto: Licht und Linse Fotografie, Le)

David Gray ist das Pseudonym eines deutschen Journalisten und Filmkritikers.

Geboren 1970 in Leipzig, weist sein Lebenslauf längere Aufenthalte in Südostasien, Irland und Großbritannien auf.

Er hat einen historischen Roman, einen Polizeithriller und eine Shortstorysammlung auf amazon.de veröffentlicht.

Autorenseite von David Gray bei amazon.de

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4 Kommentare

  1. Ein sehr schöner Artikel!

    Nur: Wie viele fehlende “gute Bösewichte” gehen darauf zurück, dass Bücher deutschsprachiger Autoren ohnehin selten zu _richtigen_ Bestsellern gemacht werden? (Ja: gemacht werden.) Diese Verzerrung klammert der Artikel aus – vielleicht bewusst?

  2. Sehr schöner und nützlicher Artikel. Nur haben Sie unterschlagen, dass Herr Hoffmann (und ganz am Schluss sehe ich, Sie kennen ihn!) schon einige Zeit vor Edgar Allan Poe seine fiesen “Doppeltgänger” aufs literarische Tapet brachte – auch hier also ein deutsches Vorbild.

  3. Ich wollte ja damit auch nur sagen, dass Herr Hoffmann früher dran war und gut als Vorbild wenn vielleicht nicht für Herrn Poe so doch für die heutigen deutschsprachigen Bösewichter dienen kann. Nichts für ungut!

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