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Frankfurter Buchmesse-Impressionen 2011: Schreibe, was du lesen magst!

Autopflege auf der Buchmesse
Werden Autor auf der Buchmesse besser gepflegt als das Gedruckte?

Alle Jahre wieder berichtet Barbara Fellgiebel von der Frankfurter Buchmesse, gibt persönliche Gespräche wieder und entdeckt Trends.

Inhaltsübersicht dieses Beitrags

Montag

Meine Buchmesse 2011 beginnt traditionsgemäß mit der Verleihung des dbp 11, des Deutschen Buchpreises, mit 25.000 Euro der höchst dotierte deutsche Literaturpreis – und einzigartig in seiner Forderung: Nur wer anwesend ist, kann gewinnen, was bedeutet, dass sich alle sechs Autoren, die es auf die Shortlist geschafft haben, einzufinden haben, egal ob sie krank sind oder nicht.

Ich marschiere erwartungsvoll um 17.00 Uhr in den Römer, das ehrwürdige Rathaus Frankfurts, das alljährlich den festlichen Rahmen für diesen noch immer um internationale Anerkennung ringenden Buchpreis bildet. So erklärt der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels Gottfried Honnefelder etwas angestrengt und leicht vermessen, dass dieser deutsche Literaturpeis in den sieben Jahren seiner Existenz dem Man Booker Prize der englischen und dem Prix Goncourt der französischen Sprache entspricht. Nun ja: Es wird zweifellos an der Zunahme seiner Bedeutung gearbeitet.

»90% aller, die hier sitzen hat noch nie ein Buch gelesen!« verkündet lauthals meine Nachbarin, womit sie die bis dahin eher an eine Trauerfeier erinnernde Atmosphäre schlagartig belebt: Mehrere, reagieren deutsch-humorlos empört, wenigere belustigt. Ich verspreche, diesen Satz hier zu veröffentlichen. Sie macht ungerührt und herrlich hessisch babbelnd weiter: »Warum se-e die eischentlich alle so aus, als mache ihne die Sach kein Spaß? Bis auf den Scobel, der sollte mal zum Friseur ge-e, aber der lescht wenigstens sei Herzblut in saane philosophische Höheflüsch.«

Egal, mir macht es ungeheuer viel Spaß, meine Menschenstudien zu betreiben und viele literarischen Wichtigs wiederzusehen. Bärbel Schäfer mit Ehe- und Strahlemann Michel Friedman, maßgeschneidertem Florian Langenscheidt Hand in Händchen mit blonder Modelbegleitung, Hanserchef Michael Krüger verpasst einer Dame einen laut schmatzenden Handkuss, was sich stark von der übrigen Bussi-Bussi-Begrüßung abhebt.

Barbara Fellgiebel (Foto: privat)
Barbara Fellgiebel

Eugen Ruge ist schliesslich der glückliche Preisträger. Die Spekulanten, die richtig getippt oder durch Ausschlussverfahren zu der Überzeugung gelangt waren, der diesjährige Preisträger müsse (nach 2 x Frau) ein Mann und eher im vorgerückten Alter sein, klopfen einander begeistert auf die Schulter. Eugen Ruge, seines Zeichens Mathematiker mit angeborenem Ossi-Humor, hat sich zugegebenermaßen so sehr aufs »Nicht-Gewinnen« konzentriert, dass er zunächst sprachlos und vor allem unfähig ist, seine Freude zu zeigen. Die Sprachlosigkeit wirkt ansteckend und schlägt sich in einer Guiness-reifen kürzesten Pressekonferenz nieder. Eine mickrige Frage fällt einem Anwesenden nach peinlichen Schweigesekunden ein, sonst nichts! Ich denke an den schönen Abba-Hit: »When all is said and done!« und begebe mich zum Empfang bei dem den geschickt balancierenden Kellnern, denen die Wasser-, Wein- und Biergläser von den Tabletts gerissen werden. Das löst die Zungen. Und das Frankfurter Buffet bringt die knurrenden Mägen zum Schweigen. Wie schön, dass Frankfurt zunehmend seine Spezialitäten kredenzt: Handkäs mit Musik (=Zwiebeln), Grie Soß (=Grüne Sauce), dazu köstlichen trockenen Wein vom hauseigenen Berg. Nur der Äbbelwoi (=Apfelwein) fehlt noch.

Einer der verschmähten Short-list-Kandidaten ist mit Gattin, Bruder und Schwägerin angereist und sitzt neben mir. Er versichert tapfer, er sei nicht enttäuscht, lässt sich das sicherheitshalber von der Gattin bestätigen und meint, der ganze Rummel, der jetzt auf den Preisträger zukommt, wäre ihm eh zu viel gewesen.

Dienstag

Der als wolkenlos angekündigte Himmel biegt sich unter einer geschlossenen Wolkendecke. Aber solange es nicht regnet, bin ich selig.

Pressekonferenz

Dank einer ungewollten Sightseeing-Bustour durch Höchst komme ich fünf Minuten vor Ende, scheine aber nicht viel verpasst zu haben. Bin sehr angetan von dem neuen futuristischen Pressezentrum, das mitten auf der Agora entstanden ist, dem früher riesigen Freigelände zwischen den Hallen – Audi macht’s möglich. Dementsprechend besteht die halbe Halle aus einer Ausstellung blitzender neuer Audi-Modelle, in deren Mitte eine bestaunenswerte Installation aus 132 Thermodruckern nonstop Tweets (für weniger elektronisch bewanderte: Das sind Twitter-Meldungen) ausdruckt und wie unendliche Klorollen von der Decke rieseln lässt. Die Halle ist leider nur ein Provisorium, das nach der Buchmesse wieder abgerissen wird; wie so vieles in Frankfurt: das technische Rathaus (kein Verlust), das historische Museum (großer Verlust), die Degussa … aber ich schweife ab. Zurück zur Buchmesse. Auch beim Wandern durch die Hallen stoße ich unvermutet auf ein Auto, diesmal der Marke Jaguar, und lese prompt irgendwo, dass die Kombination Auto und Buch Zukunft hat und auf Dauer unvermeidlich ist. Aha.

Island-Pavillon auf der Frankfurter Buchmesse 2011 (Foto: Barbara Fellgiebel)Doch zunächst geht’s ins Forum, 1. Stock, in den Island-Pavillon, der von atemberaubender Schönheit ist: An 30 riesigen Stellwänden sieht man Isländer und -innen vor ihren eigenen Bücherregalen sitzen und lesen, nichts als lesen. Ab und zu blättern sie oder bewegen sich ein ganz klein wenig. Man staunt sich durch dieses Labyrinth, kommt zum gläsernen Kubus, in dem es um die Natur geht: 5 m hohe Wasserfälle donnern auf den Betrachter herab (nur auf Leinwand, aber dennoch gewaltig), und die zum Teil karge, zwischen grün und grau mutierende Landschaft zieht den Betrachter in seinen Bann. Schließlich landet man im Wohnzimmer der Isländer: Liebevoll ist das Buchcafé mit diversen Ess- und Wohnzimmereinrichtungen bestückt und lädt zum Verweilen. Hier ab morgens die Menschen zu beobachten ist besonders ergiebig: Viele stürzen gehetzt in diesen Pavillon, man muss oder sollte ihn ja gesehen haben, das ist man dem Gastland schuldig, und siehe da, keiner kann sich der dort herrschenden beseligenden Energie und Ruhe entziehen. Keiner hetzt hinaus, jeder hat ein mehr oder weniger verklärtes Lächeln – wenn nicht im ganzen Gesicht, dann zumindest in den Augen. Selbst die Techniker hinter der Bühne, auf der im 30-Minuten-Takt isländische Autoren ihre Werke vorstellen – zumeist in großartigem Deutsch, und wenn nicht, dann mit perfekter Übersetzung – selbst die Techniker also haben so einen gelungenen Gastland-Auftritt noch nie erlebt.

Abends zur Open-Books-Eröffnung ins Schauspiel. Ein blaues Sofa prangt im Fenster des Foyers im sogenannten Chagall-Saal und bietet dem Publikum eine Wahnsinnskulisse: ein riesiges Neon-Euro-Zeichen vor ultramodernen Banktürmen. Nach der sehr lebendigen Begrüßungsansprache von Kulturdezernent Semmelroth interviewt Wolfgang Herles den frischgebackenen dbp-Träger Eugen Ruge. Dieser sammelt tonnenweise Sympathien trotz zu vieler »nichs« an seinen Satzenden. Er steckt Wolfgang Herles mit entwaffnender Natürlichkeit und angeborenem Mutterwitz in die Tasche. Ein weites Feld, von dem noch einiges zu erwarten ist.

Steinunn Sigurdardóttir, eine der vielen beeindruckenden isländischen AutorInnen: leuchtend, in sich ruhend, eindeutig die Botschaft ausstrahlend: »Ich tue, was ich liebe, und ich liebe, was ich tue!« In ihrem 9. Buch »Der gute Liebhaber« hat die studierte Psychologin es sehr genossen, sich über Psychoanalyse zu mokieren. »In ihrem Gesicht scheint die Sonne!«, sagt meine Nachbarin verzaubert.

Vera von Lehndorff: die 72jährige, vom Fotografen Richard Avedon als schönste Frau der Welt betitelte Veruschka, hat ihr Leben erzählt. Die jahrelang Menschenscheue, die am liebsten in ihren Hintergründen verschwand, setzt sich einem Mammutprogramm aus und meistert es bravourös: Alle wollen sie bestaunen und begaffen, manche verziehen das Gesicht ob ihres ungewöhnlichen Outfits: In indigoblauem, nonnenartigen Wallegewand mit Haube und Visier, dazu bequeme schwarze Turnschuhe schwebt sie herein, und je nachdem, wie penetrant das Blitzlichtgewitter sie beschießt, senkt oder lüftet sie dieses Visier. Anrührend erzählt sie von ihrem facettenreichen Leben, ihrem Gegen-den-Strom-Schwimmen und ist entsetzt, wie die Mode heutzutage die Frauen einengt, statt sie zu befreien, und dass die Frauen sich diesem Diktat fügen. Sie fasziniert und macht dem letzten Satz in ihrem Buch, geschrieben von ihrem Co-Autor, alle Ehre: Vera Lehndorff ist nicht zu fassen.

Janne Teller, Dänin mit österreichischer Mutter und deutschem Großvater. Blitzgescheite Makroökonomin mit hellseherischen Fähigkeiten. Eine moderne Nomadin, die ihre Wurzeln im Schreiben findet, hat ihr viel gepriesenes Jugendbuch Nichts bereits 2001 geschrieben und darin die jetzige Weltwirtschaftssituation beängstigend genau beschrieben .

Zum Schluss hält der diesjährige Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, der Algerier Boualem Sansal, einen Monolog über den Unterschied zwischen dem algerischen Frühling vom Oktober 1988 und den jüngsten Aufständen der algerischen Nachbarländer. Beim anschließenden eleganten Empfang mit appetitlichen Magenfüllern gibt mir die großartige Übersetzerin bereitwillig eine Kurzlektion im Notizenmachen: Nein, sie stenografiert weder auf Französisch noch Deutsch, wie von mir vermutet, sondern benutzt Piktogramme und Schlüsselwörter. Die jahrzehntelange Professionalität verleiht ihr die nötige Formulierungssicherheit, und: Es kommt darauf an, die Sprechweise des zu Übersetzenden zu imitieren. Und das gelang ihr.

Mittwoch

Regen angesagt und es ist trocken. Welch Genuss, erwartungsvolles Standpersonal, aufgeregte Erst-Buchmessen-Besucher und –mitarbeiter, leere Gänge, viel Platz. Ich weiß es zu schätzen, zumal es sich mit fortschreitender Buchmesse stündlich ändert und am Sonntag in unerträglichem Geschubse und Geschiebe genervter Besucher und erschöpftem, nur hie und da noch freundlich lächelnden Messepersonal kulminiert.

Denis Scheck gibt auf der ARD-Bühne seine Druckfrisch-Version mit Leseempfehlungen. Beim ersten Mal beeindruckend, weil völlig frei und eloquent wie immer. Leider wiederholt er dieses Event täglich – wohl davon ausgehend, dass er immer wieder neues Publikum hat. Hat er aber nicht unbedingt. Er macht jedenfalls kein Hehl aus seiner Meinung zur dbp-Entscheidung: Er hätte den begehrten Preis lieber an Antje Ravic Strubel verliehen und empfiehlt ihren Roman Sturz der Tage in die Nacht wärmstens.

Auch behauptet er, dass es jährlich 1.000 Literaturpreise in Deutschland gebe: Mit oder ohne ALFI, frage ich mich?

Anna Engel stellt Jan Costin Wagner vor. Nach Denis Scheck fällt die junge Moderatorin notgedrungen zunächst ab. Jan Costin Wagner trägt den Stempel, der beste skandinavische Krimiautor zu sein. Der sympathische junge Deutsche lebt in Heusenstamm bei Frankfurt, verbringt viel Zeit in Finnland und führt ein fast schizophrenes Doppelleben mit seinem Protagonisten Kimmo.

Fatih Akin interviewt von Dieter Moor zu seinem Buch Im Clinch. Ein Genuss, auch für den recht eingebildeten Mr. Titel-Thesen-Temperamente, der sich im Laufe des Gesprächs so von der wachen, ehrlichen Natürlichkeit des begabten Filmemachers beeindrucken lässt, dass er am Ende glaubwürdig sagt: Es war mir eine Ehre, mit Ihnen zu sprechen.

Bei der Pressekonferenz des Hoffmann & Campe Verlags stellt Verlagschef Günter Berg alljährlich Neuerscheinungen vor. Für 2012 kündigt er außerdem ein von Jörg Kachelmann verfasstes Buch an:

Der Amerikaner Jimmy Wales hat vor nur 10 Jahren Wikipedia gegründet. Das Buch Alles über Wikipedia gibt interessante Einblicke in das Funktionieren dieser inzwischen größten Enzyklopädie der Welt.

Uli Wickert ist nicht jedermanns Sache. Der ehemalige Mr. Tagesthemen ist zum fleißigen Autor mutiert und hat mit Redet Geld schweigt die Welt ein lesenswertes Buch geschrieben, in dem er Wirtschaftsethik fordert.

Abends präsentiert Peer Steinbrück dieses Buch im Gespräch mit Uli Wickert im Hotel Frankfurter Hof – weil im vorigen Jahr Uli Wickert Peer Steinbrücks Buch Unterm Strich präsentiert hat.

Julia Friedrichs schildert die spannende zweijährige Recherche zu ihrem neuen Buch Ideale.

Karl-Heinz Ott, braungebrannt und erkältet, liest völlig selbstvergessen und unstoppbar aus Wintzenried.

Weiter zu Gudrun Landgrebe, die beglückt von ihren bereichernden Erfahrungen als Hörbauchautorin erzählt, authentisch und überzeugend.

In Halle 5 ist ein großer Teil der ausländischen Verlage untergebracht. So auch Brasilien, das Land, das 2013 Gastland der Frankfurter Buchmesse sein wird und deshalb ein groß angelegtes Übersetzungsförderungsprogramm vorstellt. Es klingt großzügig und vielversprechend, bis es zu den eigentlichen Summen geht: Jede akzeptierte Neuübersetzung wird mit 1.500 – 5.000 Euro unterstützt, eine Wiederauflage mit 875 Euro.

Britta Jürgs ist Bücherfrau des Jahres und wird als Verlegerin des interessanten Verlags Aviva geehrt. Sie verlegt Bücher von und über vergessene Frauen, wie z.B. Nelly Ney, die sich 1887 in eine New Yorker Irrenanstalt einweisen ließ, um über die dortigen Zustände zu berichten. Eine mutige Wallraff-Vorgängerin. Aviva könnte der richtige Verlag für mein Barbro-Alving-Projekt sein.

Mit happy hour klingt der erste volle Buchmessetag aus.

Donnerstag

Martenstein am ZEIT-Stand. Unter den 4.000 Veranstaltungen die wirklichen Highlights zu finden entpuppt sich immer mehr als reine Lotterie. In der Vorauswahl lässt man sich von früher gemachten Erfahrungen leiten. So auch in diesem Fall. Vor zwei Jahren amüsierte der bekannte ZEIT-Kolumnist umwerfend komisch mit seinen Buchmesseerlebnissen des jeweiligen Vortages. In diesem Jahr ist er entweder zu spät eingetroffen, hat keine Erlebnisse zu schildern oder war zu faul. Jedenfalls begnügt er sich mit der Lesung dreier »oller Kamellen« – alten Glossen aus einem seiner Sammelbände, was zur Folge hat, dass ich mir diesen Termin am Freitag und Samstag schenke – und damit vielleicht die wirklich spontan witzigen Anekdoten verpasse.

Nettes Gespräch mit Annegret Heinold, einer in Nordportugal lebenden Autorin, die IK schreibt: intelligenten Kitsch – ein neues Genre, das als Zielgruppe Frauen ab 50 hat.

Katharina May repräsentiert personalnovels.de, einen Verlag, bei dem man die Personennamen bestimmen kann. Die Autorenbedingungen verdeutlichen mal wieder, welch verdammt hartes Geschäft diese Branche doch ist.

Da geht es den Isländern besser: Ihre Autoren werden staatlich gefördert und finanziell unterstützt.

Aevar Örn Jósepsson erzählt (in fließendem Deutsch), dass es vor wenigen Jahren noch überhaupt keine isländischen Krimis gab. Doch dann kamen »die wenigen Autoren, die sich getraut haben, einen Krimi zu schreiben …« und schon boomte das Geschäft, denn – so meint er: »Die Leute lieben die Angst!« So einfach ist das. Überhaupt finden die Isländer interessante Metaphern. So meint Kristin Marja Baldursdóttir, die deutsche Sprache erinnere sie an isländische Wasserfälle im Winter. Und wie klingt isländisch? Wie eine erstaunliche Mischung aus Schwäbisch und Finnisch, bei der ich unerwartet viel Schwedisch heraushören kann.

Jónina Leósdóttir ist die Frau der isländischen Ministerpräsidentin Jóhanna Sigurdardóttir, sagt, sie spräche leider kein Deutsch, und überrascht – wie so manch andere Autor auch – ihre Übersetzerin, indem sie die auf Deutsch gestellte Frage versteht und sofort auf Isländisch beantwortet.

Schreibe, was du lesen magst! lautet ihre Parole, während Steinunn Sigurdardottir meint: »Man darf nicht eindeutig schreiben – alles ist zwiespältig.«

Beglückt und bereichert verlasse ich die Söhne (sons) und Töchter (dóttirs) der Sagen und Elfen und wandere weiter, mir der privilegierten Freiheit bewusst, die ich genieße: Ich darf flanieren, wo und wohin ich will, brauche keinen Stand zu bewachen, darf, aber muss nicht zu Stunde X in Halle Y an Stand Z sein und konzentriere mich auf Trends, Neues, Auffälliges:

Literaturagenten auf der Buchmesse
Literaturagenten auf der Buchmesse

Der Trend zur Autobiografie, mit oder ohne Ghost- oder Co-Writer, ist auffällig, und dementsprechend werden die Promis eingeladen: Nur wer in diesem Jahr ein Buch veröffentlicht hat oder es noch tun wird, ist präsent; daher kein Günter Grass, keine Ingrid Noll, keine Iris Berben, aber Alice Schwarzer, Charlotte Roche, Hannelore Elsner und so einige mehr.

E-Books – werden von selbstverständlich bis gezwungen erwähnt. Manche Verlage brüsten sich mit ihrer E-Book-Publishing-Präsenz, andere vertrösten aufs nächste Jahr. Ihnen allen scheint zu entgehen, dass die wirkliche E-Book-Innovation das Self-Publishing ist, das die Verlage einfach auslässt.

Freitag

Bitterkalt, strahlend blauer Himmel und Wintersonne.

Mein erster Programmpunkt: Miriam Meckel, die Kommunikationskoryphäe schlechthin. Souverän präsentiert sie ihr neues Buch Next, in dem sie auf die unheimliche Macht des Internets aufmerksam macht.

Peter Härtling, dem man so gern zuhört wegen seiner schönen Stimme, ist leider erkrankt. Ihn ersetzt Michael Kumpfmüller, der über die Beziehung Franz Kafkas zu Dora Diamant das Buch mit dem schönen Titel Die Herrlichkeit des Lebens geschrieben hat. »Der Mann ist sicher interessant, aber langweilig!« befindet meine Begleiterin.

Nele Neuhaus – aufsteigende Königin am deutschen Krimihimmel. Der hübschen Schlachtergattin aus dem Taunus ist der phänomenale Erfolg ihrer Bücher nicht zu Kopf gestiegen. Vielmehr hat sie die Nele-Neuhaus-Stiftung gegründet, die Lese- und Schreibprojekte in Mädchenhäusern unterstützt. Wie nachahmenswert!

Eva Mattes – eine der Schauspielerinnen, die mit zunehmendem Alter immer erotischer werden, hat Wir können nicht alle wie Berta sein geschrieben. Sie glüht. Und der sie interviewende Ernst Grandits gleich mit.

Doris Dörrie beschreibt das Leben an der Sonne in Alles inklusive. Sie punktet immer mit entwaffnender Natürlichkeit und ist bestechend genau in ihren Formulierungen.

Umberto Eco bei Denis Scheck: Die beiden Herren parlieren auf Englisch, obwohl Umberto Eco sehr gut Deutsch spricht. So gut, dass er die holprigen bis falschen Übersetzungen Denis Schecks korrigiert. Richtig peinlich wird es, als Eco Kokain meint, Cocaine sagt und Scheck daraus Kochen ableitet. Eco ist begeisterter Büchersammler, und Scheck fragt, ob er je ein Buch geklaut habe:

»Nein, wissen Sie, ob Sie ein Buch kaufe oder klaue, ist der gleiche Unterschied wie eine Frau verführen oder vergewaltigen«. Ob dieser Satz die Frequenz der alljährlich geklauten Buchmessebücher verringert?

Alice Schwarzer genießt ihre Buchmesseauftritte und das sehr zahlreiche Publikum, das sie anzieht. »Ich nehme mir die Freiheit, Menschen zu lieben« erstickt sie die ewigen Versuche, sie zur Kategorie Homo-, Bi-, oder Hetero- abzustempeln. Erfreulich, wie sie jüngere Kolleginnen ermuntert, »ihr Ding zu tun und unbequem und aufmümpfig zu sein«.

Auch Charlotte Roche ist beobachtenswert, besonders, wenn man sie bei verschiedenen Interviewern erlebt. Warum wird sie eigentlich nie von Frauen befragt? Egal ob ARD, 3sat, ZDF oder ZEIT- Moderator: Alle Männer bekommen nach wenigen Minuten einen verklärten, süffisanten, begehrlichen Glanz in den Augen, den Charlotte in ihrer direkten Art kommentiert: »Eigentlich wollen sie doch alle mit mir schlafen – Männer wie Frauen, schauen Sie mal, wie viele Frauen dazu nicken!« Und wie viele Männer fluchtartig (weil ertappt?) den Stand verlassen.

Roger Willemsen – der raunende Beschwörer des Imperfekts, der sprachgewaltigste Literat und Literaturversteher der deutschen Kultur: Er wird einfach immer besser, strömt eine ansteckende Begeisterung aus, sodass man sich schnell alle seine weiteren Auftritte als unentbehrliches MUSS im Kalender vormerkt. Während allüberall Neuerscheinungen vorgestellt werden, darf er lesenswerte Klassiker empfehlen. Er tut dies mit gewohnter Bravour und zitatwürdigen Sätzen:

Flauberts Madame Bovary, – ein Beweis dafür, warum Ehen scheitern müssen: weil die Frauen so viel gelesen haben, dass sie keinen Mann finden, der ihren Erwartungen entspricht.

Knut Hamsun – wäre er mit 80 statt mit 90 gestorben, wäre dieser Nobelpreisträger nie diffamiert (weil nie von Hitler beeindruckt) worden, sondern genösse den Respekt, den seine Werke verdienen.

James Joyce bezeichnet er als den Eisheiligen der Literatur und meint, Molly Bloom hatte eine intellektuelle Zentralverriegelung. Wenn bei Ibsen im 1. Akt gehustet wird, weiß man, dass es im 2. Akt eine Lungenentzündung gibt, an der im 3. Akt gestorben wird.

Nach diesem »2. Semester der lesenswerten klassischen Romane« frage ich Willemsen, was er für sein Gedächtnistraining tut: Begeisterung für seine Themen sei die Grundvoraussetzung. Sein nächstes Buch? Jeder andere hätte gesagt: »Über ungelegte Eier spreche ich nicht gern.« Er informiert bereitwillig: Er arbeite am Gegenteil zum Knacks, ein Buch über die Freude.

Warum machen Sie eigentlich nicht die Literatursendung im ZDF?! »Ach, die wollen doch gar keine Literatursendung machen, das sieht man doch!«, sagt’s, strahlt und geht zum nächsten Termin.

So auch ich: Happy hour im Islandpavillon mit isländischem Feuerwasser, sprich Akvavit. Skål für diesen gelungenen Tag.

Samstag

Cosplayerin (Foto: Barbara Fellgiebel)Das Wochenende unterscheidet sich markant von den drei vorausgegangenen Fachbesuchertagen:

Es ist doppelt so bunt und zehnmal so voll. Fürs Bunte stehen die vielen Manga-Kids, die phantasievoll umherstolzieren, vielleicht an der einen oder anderen graphic novel (früher Comic genannt) interessiert sind, aber hauptsächlich da sind, um gesehen und bewundert zu werden.

Werden an den Tagen zuvor großzügig hier eine Suppe, dort ein Kaffee oder gar ein Glas Wein kredenzt, setzt die massive Abstaubwut der geballten Allgemeinheit der Spendierlaune schroffe Grenzen, die sich in Verbotsschildern »Nur für geladene Gäste«, »Kein Café« u. Ä. manifestieren. Schade, aber verständlich.

Insgesamt entgehen der Verlagswelt auf dieser Buchmesse alljährlich fünf- bis sechsstellige Profite: Warum nehmen sie sich nicht die schwedische Buchmesse in Göteborg zum Vorbild, wo an allen vier Tagen an allen Ständen verkauft wird? Eine Schande, das so erfolgreich erweckte Lesepotential nicht vor Ort zu nutzen.

Trotz größtmöglichem Gedränge und stauberuhigendem Ordnungspersonal an den Rolltreppen gelingt es mir, pünktlich zum lockeren Gespräch am SZ-Stand zu sein: Thomas Steinfeld und Roger Willemsen vergleichen Bühnenlesungen mit Jazzsoli. Mich jetzt auch noch über die musikalische Expertise des Roger Willemsen auszulassen, führt zu weit, obwohl es angebracht wäre. Die Tatsache, dass mir seine CD Auf entlegenen Posten – Roger Willemsen erzählt von den Enden der Welt mit nach Portugal gegeben wird, makes my day.

Summa summarum: keine Buchmesse der eklatanten Ereignisse, wenig schillernde Persönlichkeiten, dafür ein markant vom Gastland »sagenhaftes Island« dominiertes Bücherfest.

Barbara Fellgiebel

Ich freue mich auf die Lektüre von:

Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts
Antje Ravic Strubel: Sturz der Tage in die Nacht
Vera v. Lehndorff: Veruschka
Doris Dörrie: Alles inklusive
Flann O’Brien: Schwimmen zwei Vögel (übersetzt von Harry Rowohlt)
Amy Hempel: Dir zu Füßen – Gedichte von Hunden
Julia Friedrichs: Ideale
Uli Wickert: Redet Geld schweigt die Welt
Janne Teller: Nichts
Steinunn Sigurdardóttir: Der gute Liebhaber
José Saramago: Kain

 

und den Hörgenuss von:

Roger Willemsen: Auf entlegenen Posten – Roger Willemsen erzählt von den Enden der Welt
Gudrun Landgrebe: Das andere Kind von Charlotte Link

 

Barbara Fellgiebel lebt in Portugal an der Algarve. Weitere Infos unter www.alfacultura.com

Im Café: lit.COLOGNE die 10. – Ein Rückblick von Barbara Fellgiebel
Im Café: »Heimat ist das, was gesprochen wird.« – Barbara Fellgiebels Betrachtungen zur Frankfurter Buchmesse 2009
Im Café: »Nur wer anwesend ist, kann gewinnen« – Barbara Fellgiebels Betrachtungen zur Frankfurter Buchmesse 2008
Im Café: »Wo können die Leute das nur alles hinessen?« – Barbara Fellgiebels Betrachtungen zur Frankfurter Buchmesse 2006
Im Café: »Ein Fest der leisen Höhepunkte« – Barbara Fellgiebels Betrachtungen zur Frankfurter Buchmesse 2005
Im Café: »Autoren sind wie Tiere im Freigehege« – Barbara Fellgiebels Betrachtungen zur Frankfurter Buchmesse 2004

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4 Kommentare

  1. “Eine Schande, das so erfolgreich erweckte Lesepotential nicht vor Ort zu nutzen.”

    Dies ist der Grund warum ich sonst nicht zur Buchmesse, sondern zum Buchmesse-CON nur wenige Kilometer weiter gefahren bin: Dort kann ich im Bereich SF/Fantasy viele der Autoren treffen und die Bücher kaufen als Privatperson.

  2. Nur nebenbei: Es gibt weitaus höher dotierte Literaturpreise als den Deutschen Buchpreis (25.000 Euro). Spontan fallen mir der Joseph-Breitbach-Preis (50.000 Euro) und der Georg-Büchner-Preis (40.000 Euro) ein.

  3. Mit jeweils 50.000 € dotiert sich auch der Siegfried-Unseld-Preis, der Goethepreis der Stadt Frankfurt und der Heinrich-Heine-Preis. Zusammen mit dem schon erwähnten Breitbachpreis sind dies die Literaturpreise mit dem höchsten Preisgeld in Deutschland.

  4. Sehr geehrte Damen und Herren , wenn man den Eindrücken der Dame Glauben schenken darf , ist es für Selbst -Publizierer , die auch im E-Bookbereich tätig sind , besser , nicht auf der Frankfurter Buchmesse vor Ort zu sein. Da werden viele meiner Kollegen ( so wie ich) glücklich sein , dass es noch das Gegenstück in Leipzig gibt. Mit besten Grüssen aus Bayern M.P.

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