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»Evangelio« von Feridun Zaimoglu: Welch ein Luther!

Evangelio von Feridun Zaimoglu

Anlässlich der Reformation vor genau 500 Jahren wird Martin-Luther im Jahr 2017 nun wirklich überall rauf- und runterdekliniert. Braucht es da noch einen »Luther-Roman«, der zu allem Überfluss auch noch des Reformators Zeit auf der Wartburg beschreibt?

Ja – wenn er so gewaltig und wortmächtig antritt wie bei Feridun Zaimoglu. Der Autor zeichnet Luther und seine Zeit in einer bemerkenswerten Form und Fülle. Es ist nicht Luther, es ist Kunst.

Die ersten eher gefälligen Besprechungen und Interviews zu Zaimoglus Roman und nicht zuletzt der Klappentext zeichnen das verzerrte Bild eines spannenden Historienromans. Auf der Rückseite des Umschlags lesen wir:

Martin Luther ist auf die Wartburg gebracht worden und in die Mönchszelle zurückgekehrt. Ausgerechnet ein katholischer Landsknecht soll ihn, den Geächteten, auf Befehl des Kurfürsten vor Anschlägen auf Leib und Leben schützen.

Die Episode kennt man, selbst wenn man in theologischen Dingen oder Geschichte wenig bewandert ist: Luther auf der Wartburg, wo er die Bibel ins Deutsche übersetzt hat und wo ihn der Teufel heimsuchte, sodass Luther das Tintenfass nach ihm warf.

Da könnte man einen fulminanten Historienschinken erwarten mit einem Luther, der bekanntermaßen auch vor derben Sprüchen nicht zurückschreckte. Ein Roman um Attentate und Intrigen auf jener Burg bei Eisenach.

Zaimoglu als Sprachchamäleon

Doch Feridun Zaimoglu ist nicht Ken Follett. Bereits 1995 erschuf Zaimoglu mit und für »Kanak Sprak« eine Ausdrucksweise, die damals für die authentische Sprechweise türkischstämmiger Jugendlicher gehalten wurde – und die dann bisweilen tatsächlich dazu wurde. Sprachchamäleonhafter kann man sich seinem Stoff nicht nähern. Wenn Luther mit dem Teufel rang, so kann man sich vorstellen, dass Zaimoglu dies mit der Sprache tat.

Für Evangelio hat Zaimoglu erneut eine Sprache nach moderner Grammatik erschaffen, die dennoch so klingt, als stamme sie aus der von ihm beschriebenen Zeit. Dabei gelingt Zaimoglu obendrein das Kunststück, dass er die übelsten und derbsten Szenen so beschreibt, dass man sich daran nicht stößt wie an einer Beschreibung mit heutigen Ausdrücken.

So simpel die Idee erscheinen mag, den Aufenthalt Luthers aus der Sicht seines Leibwächters zu schildern, so brillant hat der Autor sie umgesetzt. In anderen Geschichten wäre der Personenschützer der leicht tumbe, aber pfiffige Kerl gewesen, über dessen naive Fragen uns der Autor Luthers Weltbild hätte erklären können. Nicht so bei Zaimoglu. Historische Interpretationen und Deutungen dürfen ihn nicht kümmern, schreibt Zaimoglu in der Danksagung am Ende des Buches: »Ich bin ein Geschichtenerzähler.«

Evangelio von Feridun Zaimoglu - Vorbereitet für die Textexegese auf der Buchmesse
Evangelio von Feridun Zaimoglu – Vorbereitet für die Textexegese auf der Buchmesse

Burkhard ist ein ehemaliger Landsknecht, der nun loyal dem Burgvogt dient. Sein Job ist es, den »Mönchpfaff« zu bewachen, der als Junker Georgen auf der Burg lebt. Burkhard ist nicht Luthers Meinung, doch das spielt keine Rolle. Nach innen bezeichnet Burkhard seinen Schützling als »Ketzer«, nach außen stets als »Meister«. Burghard nimmt seinen Job als Beschützer ernst. Er zweifelt zwar daran, dass Luther sich überhaupt im Leben behaupten wird, da der nur »Wort und Schrift« kann, aber dennoch schätzt und achtet er ihn, da er in seiner Haltung aufrecht geblieben ist und sich auch in Worms nicht gebeugt hat.

Der Autor schickt die beiden unter anderem auf die Jagd in den Wald, zu einer Hinrichtung, zu einer Zechtour ins Wirtshaus und schließlich auch nach Wittenberg, wo sich Luther mit dem Theologenkreis um Melanchthon trifft. Erst danach wird Luther seine Bibelübersetzung ins Teutsche angehen. Wir erleben all das aus Burghards Ich-Perspektive im Präsens und in der speziellen Sprache des Romans. Luthers Beschützer ist als raue Figur gezeichnet, die mordet und ins Bordell geht. Luther hingegen ist bei Zaimoglu ein Mönch geblieben, der stets mit dem Teufel ringt und gegen die »Römlinge«, gegen den Jud und Türk wettert. Als zweite Erzählperspektive streut der Autor immer wieder fiktive Briefe Luthers ein.

Doch die eigentliche Hauptfigur im Roman ist und bleibt die Sprache. Ihr muss sich die Leserin oder der Leser anvertrauen wie Luther seinem Burghard, sonst ist man in »Evangelio« hoffnungslos verloren.

Wolfgang Tischer

Feridun Zaimoglu: Evangelio: Ein Luther-Roman. Gebundene Ausgabe. 2017. Kiepenheuer&Witsch. ISBN/EAN: 9783462050103. 11,99 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
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Buchmesse Leipzig 2017:
Feridun Zaimoglu im Gespräch mit Wolfgang Tischer über »Evangelio«

Erleben Sie den Autor Feridun Zaimoglu im Gespräch mit Wolfgang Tischer auf der Bühne Forum autoren@leipzig in Halle 5 D600 am Samstag, 25. März 2017 um 11:30 Uhr. Hören Sie hier den Mitschnitt des Gesprächs mit Feridun Zaimoglu »

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3 Kommentare

  1. Werde das Buch auf meiner Fahrt nach Leipzig lesen. Freue mich schon darauf, denn es ist sicher eine interessante Kombination ein Buch über einen so deutschen Menschen von einem türkischstämmigen Autor, der noch dazu sehr sehr sprachgewaltig ist, zu lesen.
    Das passt zu unserer Zeit denke ich und bin schon sehr gespannt, liebe Grüße aus Wien!

  2. Autor und Buch dürfte ich bei einer Buchpräsentation des Verlags kennenlernen.
    Sprachlich ist der Roman eine Heraussforderung, der ich mich ohne die Lesung durch den Autor wahrscheinlich nicht gestellt hätte. Das Buch hat mir Seiten von Luther gezeigt, die so offen nicht in den Geschichtsbüchern stehen. Für mich ein gelungenes, anspruchsvolles Sprachexperiment.
    Viele Grüße
    Silvia
    PS Wir benutzen die gleichen Klebezettel im Buch…

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