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Ein unbeschriebenes Blatt – Markus Bundi: Emilies Schweigen

Markus Bundi: Emilies SchweigenWas bisher nur zweimal bei mir vorgekommen ist: Ich lese ein Buch, und kaum bin ich fertig, muss ich es unverzüglich nochmals lesen, verbunden mit ausführlicheren Notizen zum Inhalt, Motiven, wiederkehrenden Sätzen.

Weil es mich gepackt hat, und dem will ich auf die Spur kommen.

Das erste Mal ereignete es sich bei Sibylle Bergs »Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot«.

Das zweite Mal ist bei Markus Bundi eingetreten.

Seine Novelle beginnt mit einer Erklärung des Erzählers (am Ende weiß man, wer das ist). Er räumt ein, bei dem Prozess nicht dabei gewesen zu sein, sondern die Informationen von Emilies Pflichtverteidiger David Moor erhalten zu haben. Aber er hat geändert, Details weggelassen und hinzugefügt, denn

»selbst wenn alles zuträfe, habe ich gleichwohl nur nacherzählt, um nicht zu sagen: erfunden. Ein schlechtes Gewissen habe ich nicht (das Papier mit der Blankounterschrift Emilies liegt immer noch unbenutzt bei mir).«

Dann folgen fünf Kapitel, wie beim klassischen Drama mit den römischen Zahlen I-V, sowie zum Abschluss ein Brief von David (sofern der nicht erfunden ist: Das muss der Leser selbst entscheiden).

Worum geht es? Die 35jährige Emilie T. ist angeklagt, siebenundvierzig oder auch vierundsiebzig Patienten einer Klinik mit Hilfe eines Medikaments schmerzfrei getötet zu haben. Die Angehörigen jedoch verweigern jede Auskunft (bis auf eine Ausnahme). Und Emilie schweigt. Sie spricht auch nicht mit dem Verteidiger.

Über Emilie ist nichts zu erfahren, sie ist ein unbeschriebenes Blatt, so eines, wie David später in seinen Unterlagen findet, mit Emilies Blankounterschrift im unteren Viertel. Das psychologische Gutachten ist keines, denn Emilie hatte geschwiegen und jeden Test verweigert. Der Psychologe konnte lediglich feststellen:

»Hartnäckiges Schweigen ist wie eine verschlossene Tür. Aussagen darüber, was sich im Raum dahinter befindet, wären rein spekulativer Natur. Wo kein Licht hingelangt, dort bleibt es dunkel.« (S.16)

Der Staatsanwalt ist ein alter Hase, David ein Neuling. Es beginnt ein Kampf David gegen Goliath, und David gewinnt mit »Florett statt Steinschleuder« (S.25), als er die Indizienkette vom Hünen Hauptkommissar Wenk auseinandernimmt, indem er diesen dazu bringt einzugestehen, dass seine Schlussfolgerungen rein spekulativ sind.

Emilie wird schließlich freigesprochen, obwohl David zu der festen Überzeugung gelangt, dass sie diese Menschen getötet hat. Denn:

»Was rechtfertigte eine Strafe für diese Taten, die Emilie oder wer auch immer begangen hatte, die womöglich in den Augen der Opfer keine kriminellen, sondern gute Taten waren? Die Toten also weder Opfer noch Geschädigte waren, die präventive Wirkung einer Bestrafung seiner Mandantin nur dem Egoismus jener diente, die einen leidenden Menschen – aus Feigheit, der eigenen Schwäche wegen – nicht gehen lassen wollten?« (S.35)

In dubio pro reo.

So weit zum Inhalt.

Jedoch: Wie erzählt wird ist das Entscheidende, das Phänomenale! Der Leser gerät in einen Sog, wenn er mitbekommt, z. B.

  • wie Davids Gedanken und Gefühle sich entwickeln,
  • seine Musik, die immer wieder auftauchende Leere (z. B. die Nadel in der rotierende Leerrille der Schallplatte,
  • seine seltsamen Tabletten- und Kleidungsgewohnheiten,
  • sein Problem mit seiner Fastverlobten, mit den Verlobungsringen,
  • sein Wandel,
  • die Verbindung zu Schillers Drama »Die Räuber«, speziell die unbeantwortete Frage, ob denn Karl oder Franz (oder David?) Moor der bessere sei,
  • dass ein Journalist David als »ein unbeschriebenes Blatt« bezeichnet,
  • dann die präzise und findige Sprache (eine Zeugin hat »um die Augen den Kajal aufgebraucht« (S.84),
  • wiederkehrende Sätze wie »Verdammt gut versteckt«, »Sprache ist ihr Gebrauch«,
  • wiederkehrende Wörter wie Leere, leer, wie das zweimal auftauchende Australien, wo Emilie eine Cousine hat und wohin David nach dem Prozess reist (ob er da Kontakt zur Cousine aufgenommen hat?), das viermal unvermittelt erscheinende Wagadugu (eigentlich Ouagadougou, Hauptstadt von Burkina Faso), jedes Mal von jemand anderem in jeweils anderem Zusammenhang mit jeweils anderer Bedeutung verwendet, nur des Klanges, nicht des Inhalts wegen.

Das ist nur ein kleiner Ausschnitt; möge sich alle Lesewilligen selbst auf die Suche nach den Verbindungen machen. Denn: »Sprache ist ihr Gebrauch« (S.102).

Davids alter Freund Bernhard schrieb ein Jahr an folgender (vollständiger!) wissenschaftlicher Arbeit:

»Die menschliche Sprache ist eine Emergenzleistung des Geistes, ein nicht nachvollziehbares Abstraktionsvermögen, dessen Ursprünge im Dunkeln liegen. Kommunikation beruht auf Konvention, ihr Erfolg basiert auf einer nicht näher zu bestimmenden Unschärferelation zur kulturellen Wirkungsgeschichte. Sprache an sich ist nicht zu verstehen.« (S.99)

Deshalb schweigt Emilie völlig zu Recht, bleibt eine weiße Wand, eine Leere, die es zu füllen galt. Gelang aber nicht.

Der junge Rechtsanwalt David demonstriert, dass mit Sprache und ihrem kulturellen Hintergrund beliebig umgegangen werden kann. Oder, wie es der Erzähler in seiner Einleitung schreibt:

»Ich glaube, David hat mit seiner Verteidigungsstrategie das Ende aller Indizienprozesse eingeläutet.« (S.6)

Markus Bundi hat ein überaus lebendiges, überaus dichtes Geflecht geschaffen.

Malte Bremer

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