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Ein Schandweib und fünf Rezensionen

Collage: Das Schandweib von Claudia Weiss als E-BookUnlängst haben wir fünf Rezensentinnen und Rezensenten für »Schandweib« gesucht. Der historische Roman von Claudia Weiss wurde als sogenanntes »enhanced E-Book« digital erweitert.

Im der elektronischen Ausgabe sind Videos, Audio-Dateien und Kartenlinks eingebaut. Wir wollten wissen, ob diese Elemente die Lektüre tatsächlich bereichern oder eher ablenken. Und wie ist ganz allgemein das Erlebnis, einen 550-Seiten-Schmöker auf einem iPad zu lesen?

Jetzt liegen die fünf E-Book-Besprechungen vor, und sie geben einen überaus interessanten Einblick ins digitale Leseverhalten.

Insgesamt hatten sich 28 Testleser beworben. Da wir deutlich klar gemacht hatten, dass ein geeignetes Lesegerät und die Liebe zu historischen Schmökern unbedingte Voraussetzungen waren, gab es keine Nonsens-Bewerbungen. Nur ein Bewerber gab, an kein Lesegerät zu besitzen, was ihn leider von vorn herein als Testleser ausschloss. Mehr zu unseren Auswahlkriterien lesen Sie im Anschluss an die fünf Besprechungen.

E-Book-Unzulänglichkeiten: Techniker statt Typografen

Wer sich technisch mit Apple iBooks und dem Epub-Format der elektronischen Bücher auskennt, dem wird auffallen, dass unsere Rezensentinnen und Rezensenten gelegentlich Dinge bemängeln, die sich im Grunde genommen nicht auf »Schandweib« beziehen, sondern auf Unzulänglichkeiten, die E-Books, das Format oder die Lesesoftware allgemein aufweisen. Wer Wert auf eine typografisch saubere Darstellung legt, der ärgert sich beispielsweise, dass die Leseprogramme den Text recht unsensibel umbrechen und sogenannte Hurenkinder und Schusterjungen an der Tagesordnung sind. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Elektrobücherwelt von Technikern statt Typografen beherrscht wird.

Auch der Link auf eine Karte oder andere externe Anwendungen schließt die Lesesoftware iBooks oder schickt sie in den Hintergrund. Einen einfachen »Zurück-Knopf« gibt es dann nicht mehr.

Wir haben solche Urteile in den Rezensionen nicht weiter kommentiert, denn letztendlich kann es der E-Book-Leserin oder dem E-Book-Leser egal sein, wie solche Unzulänglichkeiten zustande kommen – sie sind da und stören.

Ein Fazit gibt es daher ebenfalls nicht, das muss sich jede und jeder nach der Lektüre der fünf Rezensionen selbst bilden – auch was den Inhalt des Romans betrifft.

Dass die Bewertung des Plots, der Personen und der schriftstellerischen Fähigkeiten in den Besprechungen nicht zu kurz kommt, freut uns ganz besonders. Denn multimediale Elemente können Defizite auf diesem Gebiet weder retten noch übertünchen.

Wir wünschen viel Spaß beim Lesen der fünf auch formell sehr unterschiedlichen Rezensionen zur elektronischen Ausgabe des Romans »Schandweib« von Claudia Weiss. Wie erwähnt gibt es danach noch ein paar Anmerkungen zur Auswahl der Rezensenten.

Rezension 1 von Horst-Dieter Radke:
»Ein guter Ansatz ist bereits zu erkennen«

Zwar gehöre ich zu denjenigen, die wohl nie das gedruckte Buch missen möchten, die sich für manche Zwecke jedoch die Ergänzung durch E-Books durchaus wünschen. Bislang bin ich trotz deutlicher Entwicklung in den letzten Jahren noch unzufrieden, weil die Qualität der Lesegeräte noch nicht ausgereift ist, die Form (ePub/kindle-Format u.a.) noch zu wünschen übrig lässt und die derzeitige Vermarktung der E-Books eine weitere positive Entwicklung eher behindert als fördert. Auch glaube ich, dass die Möglichkeiten, die ein E-Book bieten könnte, noch nicht ansatzweise realisiert sind. Deshalb habe ich die Chance, ein sogenanntes »enhanced E-Book« testzulesen gerne angenommen.

Der Roman spielt zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Hamburg. Der junge Jurist Hinrich Wrangel hat sich einen Prokuratorposten am Niedergericht Hamburgs gekauft, wo er zunächst Funktionen eines Anwalts wahrnehmen soll. Gleich bei seinem Antritt wird er Zeuge, wie eine kopflose Leiche gefunden wird. Die Aufklärung dieses Falls gelingt zunächst nicht. Im Sommer des gleichen Jahres (1701) wird ein sogenanntes Mannweib, Hinrich Bunk, vor Gericht gestellt, genau genommen eine Frau in Männerkleidern. Sie habe sich mit Frauen verheiratet, mit ihnen Sodomie (damit bezeichnete man damals sexuelle Praktiken, die nicht der Fortpflanzung dienten) getrieben und außerdem ihre/seine Ehefrau mit dem Messer verletzt. Hinrich Wrangel wird ihr als Anwalt beigestellt. Er bemüht sich um das Vertrauen der Inhaftierten, und sie erzählt ihm ihre Lebensgeschichte. Dabei entdeckt er manches Detail, das einen minder schweren Fall erkennen lässt. Plötzlich ändert die Beklagte ihre Meinung und beschuldigt zwei andere Menschen, Cäcilie Jürgens, mit der sie ebenfalls verheiratet war und den Apotheker Jänner des Mordes und sich selbst als Beteiligte an diesem Verbrechen. Durch diese Aussage bekommt der Prätor Wilken überraschend Interesse an dem Fall und setzt alle Mittel ein, um ihn mit einer Hinrichtung abzuschließen. Auch die kopflose Leiche wird plötzlich vorgeholt und dem Trio zugeschoben. Wrangel, der allzu forsch in Richtung »Entlastung seiner Mandantin« weiter ermittelt, wird eines Nachts, als er Beweismittel aus der Wohnung von Bunk holen will, brutal zusammen geschlagen und ausgeraubt.

Scheinbar als Nebenhandlung werden bereits im dritten Kapitel Moses Abelson und seine Tochter Ruth eingeführt. Hinrich Wrangel lernt sie über einen befreundeten Pfarrer kennen und Ruth später lieben. Gegen Ende des Romans spielt Moses Abelson jedoch eine nicht unwichtige Rolle.

Der Roman basiert auf einem authentischen Fall, den die Autorin in den Stadtarchiven von Hamburg ausgegraben hat. Sie vermittelt viel Detailwissen, so dass man immer das Gefühl hat, dass da jemand schreibt, der ausreichende Sachkenntnis hat. Leider liegt darin auch eine Schwäche des Romans. Gerade am Anfang und in vielen Dialogen wird zu viel Information vermittelt. Ihr personaler Erzählstil ist unausgereift, erinnert manchmal an den auktorialen Erzähler und lässt die Figuren nicht wirklich lebendig werden. Auch sind die Personen nicht ausreichend ausgearbeitet. So beginnt Anna alias Hinrich Bunk, eine einfache Person ohne Schulbildung plötzlich gegen Ende des Romans fast schon intellektuell zu argumentieren.

Als aufgesetzt empfinde ich auch den Schluss. Das jüdische Gesetz Auge um Auge, Zahn um Zahn mehrfach zu erwähnen, dann in der Handlung noch platt umzusetzen und erneut darauf zu verweisen ist denkbar ungeschickt. Das hätte die Geschichte auch nicht gebraucht. Ein wenig hat mich auch gestört, dass Hamburgs kulturelles Leben außen vor blieb. Man hat eher das Gefühl, die Stadt bestehe aus Juristen, Kaufleuten und Volk. Es gibt Märkte, Gastwirtschaften und sonst nichts. Ruth spielt einmal ein Klavierstück von Matthesson – das war‘s dann auch schon. In Hamburg war zu jener Zeit aber mehr los, sonst wäre Händel nicht zwei Jahre später dorthin gegangen. Schade, der Roman hätte es verdient, das intensiver an ihm ge- und vor allem überarbeitet worden wäre. Trotz dieser Kritikpunkte habe ich den Roman gern gelesen. Der Roman ist gut konstruiert, nach dem ersten Drittel stellenweise auch spannend. Es finden sich manche gute Ideen und Ansätze, etwa das historische, im Anhang in den Quellen zu findende und auch neu vertonte Lied in die Hinrichtungsszene zu integrieren.

Zu den Elementen, die aus dem E-Book ein »enhanced E-Book« machen, gehören: interne und externe Links, eine alte Stadtkarte sowie Zusatzmaterial in Form von (Bild)Dokumenten, Video- und Audiodateien. Die meisten Links rufen einen Text auf, der Erklärungen zum markierten Stichwort liefert. Das kann ein einfaches Wort sein – »Küster« wird mit »Kirchendiener« erläutert – oder auch umfangreichere Erläuterungen, manchmal sogar mit Bildern, die über den Buchtext gelegt werden. Wird ein externer Link aufgerufen, wird die App »iBooks« geschlossen.

Bei markierten Orten wird die Karte angezeigt, auf der jener mit einem Fähnchen markiert ist. Für manche Fälle ist das ausreichend. Allerdings muss man die Karte erst vergrößern, wenn man genau wissen will, was da markiert ist. Werden im Text aber mehrere Orte erwähnt um eine Wegstrecke zu schildern, so wird das wiederholte Aufrufen der Karte lästig. Besser wäre es in solchen Fällen, wenn die Wegstrecke in der Karte markiert wäre. Mit dieser zusätzlichen Option wäre das eine tolle Sache. Videos, Audiodateien und Bilddateien am Ende des Buches zusammen mit den zusätzlichen, erläuternden Texten zur historischen Situation sind gut. Aber gerade deshalb wäre auch so manche mühsam und ungeschickt platzierte Information im Roman von der Autorin besser weggelassen worden, weil längst nicht alles für die Handlung wirklich notwendig war. Während des Lesens störte mich, dass manche Elemente bei der Umsetzung der Druckvorlage in das E-Book verloren gingen. Etwa die Auslassungspunkte (…). So hatte es oft den Anschein, dass Sätze nicht zu Ende gebracht wurden. Leider gab es auch mehr als eine Handvoll Fehler, die vom Lektorat nicht eliminiert wurden (Rechtschreib- und Grammatikfehler) .

Fazit: Ein interessanter Stoff, anders als bei manchen anderen populären historischen Romanen vor einem zeitlich stimmigen Hintergrund geschildert. Leider noch mit einigen Schwächen versehen, die bei ausreichender Überarbeitung durch die Autorin mit Hilfe des Lektorats hätten ausgemerzt werden können. Das »enhanced« wird noch nicht wirklich ausgereizt. Ein guter Ansatz ist aber bereits zu erkennen.

Horst-Dieter Radke

Die App konnte im App Store nicht gefunden werden. 🙁

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1 Kommentar

  1. Es ist richtig: amazon.COM verkauft mehr Ebooks für das kindle als gedruckte Bücher. In den USA: Für Deutschland liegen keine Zahlen vor. Ein schönes Beispiel dafür, wie Statistik missbraucht wird. Man muss nur einen Ausschnitt Zahlen vorlegen und einige zusätzliche Informationen weglassen. Alle anderen sagen dann, was man nicht sagen darf, aber gern hören will. Das ist “Marketing”, keine verlässliche Information.

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