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Drama mit dem Drama: Es gibt zu tun in Hülle und Fülle

Unser Textkritiker bespricht meist Prosa und Lyrik. Doch ab und zu widmet er sich auch anderen Formen. Diesmal ist ein Drama dran – also ein Theatertext.

Auch diesmal wird an diesem Text Exemplarisches gezeigt, denn es sollen ja alle aus den Kritiken lernen können.

Ein Problem des Dramentextes besteht in den Regieanweisungen. Wann sind sie notwendig? Wann sind sie überflüssig? Wann sind sie unlogisch? Und wann schränken Sie später Regisseur oder Schauspieler zu sehr ein?

Meaulnes

von Julian Staff
Textart: Drama
Bewertung: 1 von 5 Brillen

N: (rülpst) Ich habe mich wieder überfressen.

Z: Wenn du unglücklich bist, solltest du lieber hungern. Sonst sieht es nur erbärmlich aus, aber zum Erbarmen reicht das nicht. (ein bisschen mitleidig, ein bisschen verächtlich)

N: Wenn mein Liebster
Wüsste, wie ich bin,
wenn ich nicht seins bin,
und in seinen Armen nicht meins.

A: Ein bisschen kümmerlich, aber immerhin empfindsam. Poesie ist aber nicht, wenn man mit Rotwein im Blut Jammereien von sich gibt.

Z: Sie glaubt es aber wirklich. Und ich dachte, so etwas ist heute Sache der Katholiken.

N: (sinnend) Ob ich wohl bald Stimmen höre? Dass endlich überhaupt etwas passiert.

A: Will sie uns beleidigen?

Z: Na, so wie du aussiehst, wird sich ja wohl kaum jemand anderes mit dir abgeben.

(N richtet sich trübselig auf, geht zum Bett und lässt sich fallen, A piekst ihr beim Gehen in den Bauch und in den Po, Z schnippst mit dem Finger über ihr Kinn)

Z: (lacht) Nicht so eilig! So wie du wackelst, könntest du jeden Moment einstürzen!

A: Sie ist nicht, sie wabert. Ihre Schenkel sind haarig, fleckig, picklig, dellig. Unnütze Haut, alles an ihr. Sie sollte Sport machen, sie sollte einfach weniger werden. Man kann ja kaum ihr Geschlecht erkennen, wenn sie sitzt.

N: Ich glaube, draußen ist Revolution. (geht zum Fenster) Doch nicht.

© 2012 by Julian Staff. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung


Ein sehr missglückter Dramenbeginn
Theatertexte haben ihre eigenen Gesetze: Es gibt zu tun in Hülle und Fülle!

Die Kritik im Einzelnen


Es handelt sich um den Beginn eines Dramas. Nun ist es bei modernen Dramen zwar nicht unüblich, dass auf die Angabe von Ort, Zeit sowie Personen verzichtet wird. Allerdings wäre es in diesem Fall wohl sinnvoll, das zu ergänzen, damit einem Leser die äußeren Umstände klar werden: Was ist das für ein Raum? Schlafzimmer, Küche oder Garage? Sitzen die Personen auf Stühlen oder auf dem Boden usw. Es geht dabei nicht um Details, sondern nur um eine grobe Orientierung!
Textproduzentinnen beiderlei Geschlechts sollten selbstverständlich ganz genaue Vorstellungen haben von diesen Umständen, damit Drama funktionieren kann!
(Allerdings kenne ich den Romannicht, von dem wohl der Titel  stammt – vielleicht wäre dann ja alles klarer? Doch sollte niemand, der schreibt, davon ausgehen, dass alle das Gleiche gelesen haben wie man selbst.) zurück

Hier tummelt sich ein Hauptproblem: Welche Regieanweisungen sind hilfreich, welche überflüssig? Und wie verhalten sie sich zum Text? Da N zu Beginn rülpst, könnte man den nachfolgenden Satz einfach streichen, denn der Zuschauer sieht ja die dicke Frau und hört das Rülpsen: Wozu also diese Rechtfertigung? Andererseits könnte auch auf die Anweisung rülpst verzichtet werden: Dann könnte die Schauspielerin sich entscheiden, ob sie von einem überladenen Teller essend sitzt oder z. B. aufstößt oder eine entsprechende Bewegung mit der Faust aufs Brustbein macht oder oder oder … zurück

Sinnvollerweise sollte diese Regieanweisung am Anfang stehen – wenn sie denn notwendig ist ich glaube das nicht, denn der Sprachstil wird aus dem schönen Wortspiel erbärmlich-Erbarmen schon allein deutlich. Zudem wird hier wiederholt, dass es ums Essen geht: Damit gäbe es noch ein Argument, warum der vorangegangene Satz bzw. die Regieanweisung überflüssig wären! zurück

A hat Recht: Das Gedicht ist inhaltlich schlecht: seins und meins gibt keine Auskunft darüber, wie jemand ist, sondern was! Dann müsste es sein und mein heißen.
Völlig überflüssiger Weise handelt es sich jedoch auch sichtbar um ein schlechtes Gedicht: Dabei bekommt es ein Zuschauer gar nicht zu sehen! Es wäre problemlos möglich, JEDEN Vers mit Großbuchstaben beginnen zu lassen (oder NUR den ersten), Seins und Meins groß zu schreiben und am Ende des dritten Verses das Komma zu streichen! zurück

Sprachlich behagt mir »Jammereien von sich gibt« so gar nicht, da es im Nominalstil vor sich hin stelzt: Warum nicht das klare »vor sich hin jammert«? Wir haben so wunderbare Verben! Aber inhaltlich hat A meine volle … (Erwischt! Das kommt davon, wenn man dieses Politikergesabbel in den Nachrichten anhören muss … nochmals von vorne:)  Aber inhaltlich unterstütze ich A aus leidiger Erfahrung: Allein diese Flut von Weltschmerz auskotzenden Jammergedichten, die eine öffentliche Besprechung wünschen und mir den Rechner zumüllen … Da nützt es gar nichts, ab und zu eines in die Pfanne zu hauen: Denn wer solche Gedichte schreibt, der liest nicht. zurück

Ich verstehe nur Flugzhafen (mal was anderes als der doofe Bahnhof): Was glaubt N wirklich? Dass sie nicht weiß, wie sie ist? Und das sei heute Sache der Katholiken, nicht zu wissen wie sie sind, damals jedoch wussten sie es noch? Rätsel über Rätsel … Nicht einmal Verbesserungen kann ich vorschlagen (klingt doch echt besser als »[…] Verbesserungsvorschläge kann ich machen«), da ich schlicht nichts dieser Äußerung begreife! zurück

Die Regieanweisung sinnend ist überflüssig, denn das Sinnen zeigt bereits die indirekte Frage! Aus dass würde ich damit machen, um die Absicht zu verdeutlichen, und am Ende ein Fragezeichen setzen, damit die Äußerung die indirekte Frage weiter führt. zurück

Da mir die Situation nicht klar ist, weiß ich nicht genau, an welches Du sich Z wendet: An A, da A ja direkt zuvor mit Z über N gesprochen hat? Oder an N? Beides ist möglich. In Dramentexten fände man hinter Z um der Klarheit willen eine Regieanweisung (zu A) bzw. (zu N). zurück

Allerhöchst verwirrend, diese Regieanweisung: N geht zum Bett (Aha: Schlafzimmer? Obdachlosenasyl? Bettenladen? Darum wäre eine Ortsbenennung zu Beginn so wichtig!) und lässt sich fallen: Ins Bett? Vors? Nebens? Aufs? Sitzt sie? Liegt sie? Bäuchlings? Rücklings? Seitlich? Und wieso richtet sie sich auf, wo befand sie sich denn zuvor? Lag sie auf dem Boden? Dass sie sich trübselig aufrichtet, sagt mir gar nichts: trübselig ist keine Aufrichtungsart. Und wohin geht A? Und wieso ist wichtig, ob er beim Gehen oder Stehen oder Sitzen piekst? Und wie kann er ihren Bauch und Po gleichzeitig pieksen, wenn N doch so umfangreich ist? Hüpft er vielleicht er neben ihr her? Oder geht N an A vorbei auf dem Weg zum Bett (Warum geht sie überhaupt an A vorbei? Oder verstellt A ihr den Weg?)? Und wie kann man jemandem mit dem Finger über das Kinn schnipsen (mit einem p)? Man kann daran zupfen, darüber streichen, es stupsen und oder vor/unter/neben dem Kinn mit den Fingern schnipsen – aber wie um Himmelswillen schnipst man mit 1 Finger? Das erinnert mich an diese berühmte Aufgabe für einen Schüler des Zen-Buddhismus: »Lausche auf das Klatschen einer Hand«. So erfüllen Regieanweisungen niemals ihren Zweck! zurück

Jetzt wird es völlig kurios: N befindet sich doch laut Regieanweisung bereits im/nebem/unterm/vorm Bett: Wie kann sie da einstürzen??? Oder sagt Z das, während N zum Bett geht? Dann – ja dann müsste die Regieanweisung aufgeteilt werden, damit sich eine vernünftige Reihenfolge ergibt … ich versuchs mal (reibt sich die Augen, richtet sich auf, seufzt ausgiebig, lockert die Finger, grübelt, schüttelt den Kopf, kopiert wirre Regieanweisung nebst Zetts Satz in das Dokument und legt los):

N: (steht auf, will an A und Z vorbei zum Bett)
A: (piekst ihr in Bauch und Po)
Z: (schnipst gegen ihr Kinn, lacht) Nicht so eilig! So wie du schwabbelst, könntest du jeden Moment einstürzen!
N: (lässt sich aufs Bett fallen)

Bei der Gelegenheit habe ich das unpassende wackelst (N ist kein starres Gebilde) sowie das Einfingerschnipsen gleich mit bereinigt – wenn schon, denn schon! zurück

Oha: N ist nicht! Das duftet schwer nach tiefenphilosophischem Auswurf, denn damit wird Ns umfangreiche Existenz verneint. Trotz derer Nichtexistenz folgt aber eine detaillierte Beschreibung der Schenkel  die also sind, existieren außerhalb von N?
Selbst wenn N wäre, fragt sich, aus welchem Grund und mit welcher Absicht ihre Schenkel eigentlich so beschrieben werden: Ist da sonst nichts zu sehen? Was hat der Zuschauer davon? Sieht er diese Person denn nicht (Vergaß: Die Person existiert ja gar nicht …)? Wieso ist die Haut unnütz? Der Zuschauer sieht diese Person – ihm muss man keine Abscheu einreden – die entwickelt sich ganz von selbst, sofern der Maskenbildner was taugt!
Von diesem Geschwätz würde ich nur Folgendes übrig lassen: »Sie sollte einfach weniger werden. Man kann ja kaum ihr Geschlecht erkennen, wenn sie sitztzurück

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