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Das Netz ruft zum Suhrkamp-Boykott auf

Tod eines Kritikers bei KaZaaSuhrkamp wollte 1.200 Euro Abmahnkosten wegen eines Links auf eine eBook-Datei kassieren, die der Verlag zuvor selbst in Umlauf gebracht hat. Nachdem ein Proteststurm durchs Internet ging, lenkt Suhrkamp dann aber schließlich doch noch ein.

Es war ein Glückstag für den Suhrkamp Verlag. Als Frank Schirrmacher in einem offenen Brief in der FAZ den Vorabdruck des neuen Walser Romans ablehnte, weil dieser angeblich antisemitische Tendenzen enthalte, konnte man in der Marketing-Abteilung des Verlages eigentlich die Beine hochlegen. Die Arbeit an einer groß angelegten Werbekampagne übernahmen nun andere. Vornehmlich die Feuilletons von SZ und FAZ stritten über den Roman, und unser »Allerlautester« (Henscheid über Marcel Reich-Ranicki), der im Roman persifliert wird, gab in seiner Fernsehsendung die beleidigt-getroffene Leberwurst. Durchs Land hallte ein bombastisch lauter Theaterdonner, dem wir es sogar zu verdanken haben, dass das Fernsehen eine Lesung(!) übertrug. Das letzte Mal, dass man dort längere literarische Prosatexte vorgetragen hatte, muss wohl zu Zeiten von Kuhlenkampfs Nachtgedanken gewesen sein.

Wer schon immer den Verdacht hegte, dass die meisten Leute ihre Meinung zu Büchern absondern, die sie noch gar nicht gelesen haben, der wurde nun bestätigt, denn der neue Walser-Roman »Tod eines Kritikers« war noch nicht im Buchhandel erhältlich. Die Website textz.com brachte den Grundtenor der Diskussion auf den Punkt: »Dass wir Martin Walser, auch ohne sein neues Buch gelesen zu haben, für ein Arschloch halten, versteht sich hoffentlich von selbst«.

Bei Suhrkamp telefonierte man sich zwischenzeitlich wahrscheinlich die Finger wund, um eine Druckerei mit freien Kapazitäten zu finden, die es ermöglicht, den Roman schnellstmöglich auf den Markt zu werfen. Als am 5. Juni offiziell die Veröffentlichung bekannt gegeben wurde, die man moralisch gegen die »Sowas-nicht-bei-Suhrkamp«-Kritiker mit einer Pressemeldung absicherte, da sollte es noch über drei Wochen dauern, bis der Roman im Buchhandel erhältlich wäre. Eine quälend lange Zeitspanne für den Verlag, denn so lange Zeit würde man die Diskussion in den Medien nicht aufrecht erhalten können. Die öffentlichen Lesungen Walsers im Fernsehen und im Radio waren zudem ein Fehler, denn hier konnte sich bereits jedermann von der Belanglosigkeit des Textes ein Bild machen, und die von Schirrmacher zitierten Passagen wirkten – wie so oft – in ihrem Kontext völlig harmlos.

Doch den peinlichsten Fehler hatte der Suhrkamp Verlag bereits eine Woche zuvor begangen und damit wieder einmal den Beweis angetreten, dass die meisten Verlage immer noch keine Ahnung vom Internet haben. Um der Diskussion zumindest in ausgewählten Kreisen eine sicherere Grundlage zu bieten, verschickte der Verlag die ersten Leseexemplare an ausgesuchte Medienvertreter. Allerdings nicht in gedruckter Form – schließlich muss es ja schnell gehen und wozu haben wir denn das Internet -, sondern digital als PDF-Datei.

Und was passiert nun? Logisch: das Werk verbreitet sich wie erwartet in Windeseile im Netz. Die nur 363 kByte große Datei ist mittlerweile in allen digitalen Tauschbörsen abrufbar, so wie es bereits seit einiger Zeit im Musikbereich bei vielen Promo-CDs üblich ist, die man vorab an die Presse sandte.

Normalerweise werden illegale eBooks, sogenannte bookz, in liebevoller Handarbeit gescannt und mehrfach Korrektur gelesen, hier jedoch lieferte der Verlag die Datei gleich selbst, als habe Suhrkamp seinen Verlagssitz nach Schilda verlegt.

»Wenn schon peinlich, dann oberpeinlich!«, schien man sich daraufhin bei Suhrkamp zu sagen, denn die Posse sollte weiter gehen.

Der Betreiber eines Weblogs (eine Art Internet-Tagebuch und -Zettelkasten) linkte mit der ironischen Bemerkung »read now – buy never« auf einen der vielen Webserver, auf dem der Text zu finden war. Dieser Link war auch bald in der Suchmaschine Google verzeichnet, die die überaus aktuellen Weblogs mit höchster Priorität durchsucht. Diesen Eintrag entdeckte nun wiederum der SPIEGEL ONLINE, der darüber einen Artikel brachte. Wie beim SPIEGEL ONLINE seit einigen Monaten leider üblich, versah man ihn mit einem publikumswirksamen reißerischen Titel: »Tod eines Buches«.

Bei Suhrkamp – Sie ahnen es sicher bereits – kann man sich gar nicht vorstellen, wie diese Datei denn ins Netz gelangen konnte. Doch anstatt nun in Frankfurt besser ruhig an den Schreibtischen zu verharren, um sich jede weitere Peinlichkeit zu ersparen, setzte man noch einen drauf.

Per eMail erhielt der Betreiber des Weblogs, Jörg Kantel, eine Abmahnung des Suhrkamp-Rechtsanwalts: Der Link solle entfernt werden. Die dadurch entstandenen Anwaltskosten von 1.201,80 Euro soll Kantel zahlen. Bei Zuwiderhandlung würden 100.000 Euro fällig.

Normalerweise hätte man vielleicht einen höflichen, aber bestimmten Brief an Kantel geschrieben und auf Linkentfernung bestanden, so wie seinerzeit der Carlsen Verlag gegen illegale Harry Potter Übersetzungen im Internet vorging, doch bei Suhrkamp kennt man scheinbar weder das Internet noch Anstandsregeln.

Im Netz herrscht nun Aufruhr, und viele Websites solidarisieren sich mit Kantel. Erste Boykottaufrufe gegen Suhrkamp und den neuen Walser-Roman werden laut. Kantel dokumentiert die entsprechenden Links und Aktionen in seinem Weblog.

Und heimlich können sich die Kritiker freuen, die schon immer der Meinung waren, dass der neue Walser bei Suhrkamp besser nicht erschienen wäre.

Nachtrag vom 20.06.2002: Der Streit ist beigelegt

»Ihr könnt wieder Bücher von Suhrkamp kaufen!«, verkündet Kantel in seinem Weblog eine halbe Woche später. Nach einem klärenden, von Suhrkamp initiierten Telefongespräch habe der Verlag auf die Forderung verzichtet und die Abmahnung zurückgezogen.

Dass der Verlag sich gegen die illegale Verbreitung von Werken seiner Autoren einsetzt, ist löblich und sollte im Interesse jedes Schreibenden sein. Schließlich müssen Verlage, Autoren, Buchhändler und viele mehr vom Verkauf der Bücher leben. Die überzogene Abmahnung einer Privatperson für einen Link zeigt jedoch, wie schnell sich ein Kanonenschuss auf Spatzen ins Gegenteil verkehren kann. Unzählige Online- und Offline-Medien berichteten über die Aktion, und viele Leser erfuhren erst dadurch von der digitalen Raubkopie. Die Nachfrage und Neugier stieg enorm, was auch die Mails an unsere Redaktion belegen, in denen viele wissen wollten, wo denn die Datei zu bekommen sei.

Ob allerdings, wie Suhrkamp behauptet, durch die illegale Verbreitung tatsächlich ein finanzieller Verlust entsteht, ist fraglich. Anders als im Software- oder Musikbereich, wo jede Kopie fast dem Original entspricht, ist dies hier nicht der Fall. Die digitale Kopie wird am Bildschirm kaum jemand lesen, nur wenige werden die 150 Seiten ausdrucken oder auf ihrem Palm-Computer lesen. Vielmehr ist die PDF-Datei mehr mit dem in der Buchhandlung ausliegenden Ansichtsexemplar vergleichbar: man schaut kurz hinein, liest die ersten Sätze und entscheidet dann, ob man sich das Buch kauft – oder auch nicht.

Und so gibt es auch schon wieder die ersten Verschwörungstheorien im Netz, die behaupten, dass der ganze Rummel um die Raubkopie eine weitere Inszenierung des Suhrkamp Verlags gewesen sei. Das jedoch ist fraglich, denn die Aktion förderte sicherlich nicht den Ruf des Hauses.

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