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Das Libroid: Des Kaisers neues Ü-Book

Libroid in Apples iTunes StoreDer Mann schien sich geklont zu haben: Egal ob Buchmesse, TOC, Homer 3.0 oder andere Lese-Veranstaltungen, Jürgen Neffe war omnipräsent. Branchenpresse und Spiegel online bejubelten, dass es diesem Mann gelungen war, die Zukunft des Lesens aufzuzeigen.

Was Unternehmen wie Amazon und Apple mit Millionen an Entwicklungskosten nicht schaffen, das hatte Neffe im Alleingang hinbekommen, so konnte man es aus den Medienberichten heraushören. Sein von ihm so genanntes »Libroid« schien das Ü-Book zu sein, das Über-eBook. Und seit wenigen Tagen ist es für alle erhältlich.

Unsere kleine Nichte hat es sich angeschaut und meint: »Aber das ist ja nur eine App!«

Gut gemachte Buch-Adaption fürs iPad

Und in der Tat, da sahen wir es auch: Das Libroid ist nichts weiter als eine gut gemachte Umsetzung von Neffes eigenem Sachbuch für Apples iPad.

Zum Darwin-Jahr 2009 erschien Jürgen Neffes Buch zunächst in Papierform. Es war eine Biografie der besonderen Art, denn Neffe verfasste keine herkömmliche Lebensbeschreibung des Naturforschers. Stattdessen reiste Neffe im Jahre 2007 zu den Orten, die Charles Darwin im 19. Jahrhundert besuchte hatte und ihn zu seiner Evolutionstheorie inspirierten. Indem Neffe Darwins damalige Sicht den heutigen Eindrücken gegenüberstellt, gelang dem Autor eine lesenswerte Mischung aus Reisebericht, Wissenschaftsreportage und Darwin-Biografie.

Für diese Fülle an Informationen schien die Form des gedruckten Buches schon damals zu klein. Da gibt es Neffes Beschreibung, aber da gibt es auch Darwins Bericht, der wie eine Schicht darunter liegt. Und da gibt es unzählige Fotos und Zusatzinformationen zu jeder Station der Reise. Allein schon aus ökonomischen Erwägungen heraus kann so etwas gar nicht alles in einem Buch aufgenommen werden.

Genauso wenig wie das Wissen der heutigen Welt in gedruckten Lexika nur unvollständig wiedergegeben werden kann, so verlangte auch Neffes Werk nach einer multimedialen und vernetzten Aufbereitung.

Reisetagebücher eigenen sich hierfür sehr gut. Bereits im Jahre 2001 gewann ein solches Werk den Publikumspreis beim damaligen Online-Literaturwettbewerb von T-Online und dtv. Die Informationen des »Reisetagebuch Chile« von Katharina Pallas wurden auf vier Browserfenster aufgeteilt. So konnte man beispielsweise die Orte auf der Karte anklicken und parallel erschien der passende Tagebuchtext, während in einem weiteren Fenster der Tag im Kalender markiert wurde und ein weiteres Fenster ein Fotos der Gegend zeigte. Das funktionierte auf jeder Ebene, egal ob man ein Datum im Kalender klickte oder sich linear im Text fortbewegte: Sofort wurden kontextbezogene Zusatzinformationen angezeigt.

Die Umsetzung des preisgekrönten Beitrags wurde seinerzeit vom literaturcafe.de koordiniert und gefördert. Noch heute ist er im literaturcafe.de abrufbar, jedoch mit Einschränkungen. Das beginnt bei den Popup-Fenstern: Heute werden sie von jedem Popup-Blocker im Browser unterdrückt. Damals gab es sowas nicht. Auch das Zusammenspiel von Karte und Kalender klappt nicht immer. Damals war alles für Flash 5 optimiert, für die aktuelle Version 10 müsste einiges angepasst werden, damit alles reibungslos funktioniert.

Wie die Langspielplatte, die 5-Zoll-Diskette oder die Compact-Cassette befindet sich der Beitrag in der Format-Falle. Damals technisch vorn, fehlen heute oft die passenden Abspielgeräte.

Kein passendes Gerät für ein Buch

Jürgen Neffe hatte 2009 jedoch ein anderes Problem: es gab schlicht weg kein Gerät, das sich für eine multimediale und vernetzte Aufbereitung seiner Informationen eignete. Natürlich hätte man Bilder, Links und Info-Häppchen auf PC oder Notebook präsentieren können. Doch anders als die kurzen Tagebucheinträge von Katharina Pallas würde niemand am Bildschirm einen langen Text lesen. eBook-Reader wie das Kindle stellen zwar den Text optimal dar, doch keine Farbfotos. Das iPhone schien beides zu bewerkstelligen, doch das kleine Display kann die Vielzahl der Infos nicht in geeigneter Form darstellen.

Und dann kam 2010 das iPad von Apple auf den Markt, ein Lesegerät, das auch Bilder farbig darstellt und eine größere Präsentationsfläche bietet. Und da sich kein Verlag innovativ genug zeigte und die Umsetzung des Darwin-Buches für einen viel zu kleinen Markt finanzieren wollte, nahm Neffe dies mit einem Entwicklerteam selbst in die Hand.

Für die Darstellung der Info-Ebenen wählte Neffe die einfachste Form: Spalten. So scrollt in der Mitte der scheinbar endlose Text des Buches vorbei, während links daneben passende Fotos zu sehen sind und rechts weitere Zusatzinfos und eine Weltkugel, die den Ort anzeigt – also ähnlich, wie es das »Reisetagbuch Chile« mit Fenstern bewerkstelligte. Ergänzt wurde die Aufbereitung natürlich um obligatorische eBook-Elemente wie Suchfunktion und die Möglichkeit auch persönliche Notizen, Links und Infos zum Text zu hinterlegen. Und es besteht jederzeit die Option, Darwins Originaltext aufzurufen. Und da das alles nur im Querformat Platz findet, verschwinden bei der Drehung ins Hochformat die Seitenspalten und es bleibt nur der reine Text übrig, von dem nicht mehr ablenkt. Und natürlich sind auch Töne und Videos auf dem iPad kein Problem.

Libroid-Werbefilm bei YouTube

Kampfpreis für hohe Downloadzahlen

Das alles lässt sich nicht mit dem Standard-eBook-Format epub realisieren, sodass die multimediale Umsetzung des Buches nur als sogenannte App, also als eigenes Programm, aufs iPad zu bringen ist. Für 7,99 Euro ist sie ab sofort im iTunes-Store erhältlich.

Das ist ein Kampfpreis. Kein Verlag würde ein »enrichted ebook« zu diesem niedrigen Preis verkaufen, denn Fotos, Text und Umsetzung sind teuer. Doch bei Neffe liegt vieles in einer Hand. Und nur ein niedriger Preis garantiert hoffentlich hohe Downloadzahlen.

Neben der Tatsache, dass Neffe ein tüchtiger und überzeugender Handelsvertreter in eigener Sache ist, war es ein genialer Schachzug des Autors, die App eben nicht als »angereichertes eBook« der gedruckten Version zu vermarkten, sondern das Darwin-Projekt als Prototyp einer neuen eBook-Generation darzustellen und ihm den inhalte-unabhängigen Titel »Libroid« zu geben.

Als ehemaliger Journalist beim SPIEGEL wusste Neffe, wie man die Medien füttert, die so die Kunde von der Zukunft des Lesens weiterverbreiteten.

Ein Buch der Evolution

Daher glaubten zunächst viele Leser, dass das »Libroid« ein neues Hardwareprodukt neben Kindle & Co. sei. Stattdessen ist es aber nicht mal ein eigenes Software-Format wie epub, das rasch die Umsetzung eigener geeigneter Inhalte ermöglicht. Bestenfalls ist es ein Programmier-Framework, dessen Komponenten wiederverwendet werden können, bei dem dennoch jedes kommende Buch eine Individualanfertigung bleibt – sofern die Inhalte passen. Denn Inhalt bedingt auch beim »Libroid« die Form, und für weitere Reisetagebücher mag es bestens geeignet sein. Ebenso für andere Texte, die durch visuelle Komponenten angereichert werden können. Denkbar wäre es auch, mit diesem Format eine Text- und Comicadaption gegenüberzustellen.

»Das Libroid« wird es also so gar nicht geben, genauso wenig wie es »den Mensch« gibt. Alles bedarf einer gewissen Evolution. Doch auch dafür ist Neffe schließlich Spezialist.

Die App konnte im App Store nicht gefunden werden. 🙁

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1 Kommentar

  1. Bei aller Hochachtung vor der Leistung des überschaubar großen Libroid-Teams: technische Innovation im eigentlichen Sinne steckt wirklich nicht dahinter, weder neue Hard- noch Software-Formate, das ist richtig.
    Aber egal – wenn Neffe nachvollziehbar sein eigener tüchtigster Promoter ist, so tut er dies auch gleichzeitig für neue Medienformen, für die der klassische Begriff des Buchs zu eng wird.
    Der Branche täten mehr solcher Experimente mit Sicherheit gut.

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