Was wohl wäre, wenn Amerika keinen Gott hätte?

Ein New York Tagebuch der Katastrophentage von Sonja Schultz

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10. September

Ich bin nach New York geflogen, um hier ein Praktikum bei einer Independent-Filmfirma zu machen, auf das ich mich schon lange gefreut habe. Mein bester Freund Jens ist auch den ganzen September über da. Er studiert Medizin und absolviert eine Famulatur am St. Vincents Hospital in Downtown Manhattan. Wir können beide umsonst bei seinen Bekannten Kristina und Juan wohnen, sie ebenfalls Ärzte sind, sie Dermatologin, er Chirurg. Sie schlafen auf dem Sofa, solange wir da sind. Wir kaufen ihnen Bier. New York ist die schönste und die dreckigste Stadt der Welt.
     Alles ist perfekt.

11.September

Es ist mein zweiter Tag in New York.
     Um 8.45 Uhr am Morgen rast eine Boeing der American Airlines in den ersten Turm des World Trade Center. Im Wohnzimmer klingelt das Telefon. Ich liege im Bett und überlege, was ich heute unternehmen werde. Jens schläft noch, er will seine Arbeit im Krankenhaus schwänzen und ausschlafen. Im Wohnzimmer wird der Fernseher eingeschaltet. Das ist ungewöhnlich, denn Juan hat heute seinen freien Tag und muss nicht in die Chirurgie. Er kann auch lange schlafen. Und er hasst das amerikanische Fernsehen.

Um 9.03 Uhr rast ein zweites Flugzeug in den Südturm. Ich gehe ins Badezimmer. Zähne putzen, duschen. Juan sitzt auf dem Sofa und murmelt etwas. Ich ziehe mich an und laufe zur Küche. »Morning«, sage ich. Juan antwortet nicht. Im Fernsehen läuft eine Endlosschleife, in der das zweite Flugzeug in den Tower kracht. Ich wundere mich nur kurz, warum Juan so früh am Tage ein so schlechtes Hollywood-Movie ansieht, dann begreife ich, dass etwas nicht stimmt.

Juan fragt: »Is Jens still asleep? They gonna need him at the hospital.«
     Die Reporter sind sehr aufgeregt. Die Maschine gleitet in das Gebäude wie in Butter, kurz danach die Explosion. Es sieht noch nicht wirklich schlimm aus.
     Juan meint abends, er dachte, das Flugzeug würde dort einfach stecken bleiben. Man würde ein Restaurant daraus machen. Für die Touristen.

»Jens, Jens, steh auf, es sind zwei Flugzeuge in das World Trade Center gerast!«
     »Lass mich schlafen.«
     »Jens, du sollst zum Krankenhaus, es ist am nächsten dran am Unglücksort. Bald bringen sie die Leute ohne Arme und Beine…«
     Juan knallt die Tür, als er geht. Der Fernseher läuft noch.
     »Guck doch ins Fernsehen!«
     Jens steht widerwillig auf, doch dann hört er schon die Explosionen.

9.38 Uhr. Ein drittes Flugzeug rast ins Pentagon. Das Ziel ist zweite Wahl. Eigentlich war es fürs Weiße Haus bestimmt, für den Präsidenten. Jens putzt sich die Zähne und legt sich Klamotten zurecht, die dreckig werden können. Was passiert, ist nicht mehr fassbar. Das Telefon klingelt: Juans Mutter aus Spanien. »Si, si, no, alles okay, everyone alive...« Als die letzte Maschine in Pittsburgh herunterkommt, sind wir schon aus dem Haus. Der doorman diskutiert mit schwerhörigen Hausbewohnern: »No, believe me, its true! Its real!«

Wir bezahlen für den nächsten subway, aber die Bahnen nach Downtown fahren nicht mehr. Im heißen Tunnel singt ein Schwarzer gläubige Lieder, was die Leute etwas beruhigt. Wir suchen draußen eine Haltestelle und einen Bus, der nicht heillos überfüllt ist. Es dauert eine Weile, aber dann fahren wir die Fifth Avenue herunter. Die Touristen shoppen noch, die Männer im Anzug gehen noch zur Arbeit. Nur der Verkehr stockt. Draußen bilden sich Menschentrauben um aufgedrehte Autoradios. Sie hören ungläubig die Nachrichten.

Ich sehe zur Frontscheibe hinaus. Vorn ist eine dichte Rauchwolke. Sie wächst.
     Schließlich ist die Straße gesperrt, kurz vor dem Empire State Building, das noch steht. Gelbe Polizeibänder werden um den Eingang gezogen: Do not cross. Alle sind zu Fuß auf den breiten, leeren Avenues unterwegs, die Handys nervös am Ohr.

Immer wieder biegen Amerikanerinnen um die Ecke, bleiben schlagartig stehen und rufen: »Oh my god! What is this!« Jeder ist begierig, es zu erklären, ohne es wirklich erklären zu können. Wir machen Witze, wie es gewesen wäre, wenn die Piloten die Türme näher am Boden gerammt hätten, sodass diese umgefallen wären. Whamm. Haha. Die Vorstellung ist abstrus, denn die Amerikaner preisen das Trade Center als das sicherste Gebäude der Welt. Wir wussten noch nicht, wie sich die Katastrophe weiterentwickeln würde.

Immer mehr Menschen scharen sich um Ghettoblaster und geparkte Autos. Sie sind sehr ernst, einige halten sich eine Hand vor den Mund. Die Rauchwolke wächst und wird dunkler. Ich mache Fotos. Dann begleite ich Jens zum Krankenhaus. Draußen warten in mehreren Reihen leere Krankenliegen auf die Opfer. Ambulances kommen und rasen wieder davon. Jens zieht seinen weißen Kittel über und verschwindet hinter der Polizeisperre. Schließlich kam er nach New York, um etwas zu erleben. Ich ja auch.

Also mache ich mich auf den Weg und versuche, so nah wie möglich an die Katastrophe heranzukommen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was passiert ist. Doch downtown ist die Stadt vollständig abgeriegelt. Leute filmen die Rauchwolke, die schwer zwischen den Wolkenkratzern hängt. Die Fernsehtauglichkeit des Anschlages ist unglaublich. Viele Passanten tragen bereits einen Mundschutz oder pressen sich Tücher auf das Gesicht. Es riecht nach verbranntem Plastik. Straßen, Häuser, Autos sind von einer dicken, grauen Staubschicht überzogen. Die Krankenwagen, die aus dem abgeriegelten Gebiet herausrasen, ziehen eine lange Staubwolke hinter sich her.

»You kill the people, now the people kill you!« schreit ein Schwarzer, der auf dem Fahrrad vorbeirollt. Wer eines hat, fährt heute Fahrrad und versucht, sich so einen Überblick zu verschaffen. »Whatever« hat jemand in die dicke Staubschicht auf einem Porsche geschrieben. »Who knows«. Das eben, was New Yorker immer sagen, wenn sie die Ereignisse in dieser Stadt nicht begreifen. Nur ist es diesmal nicht witzig.
     Die Polizei versucht, die Straßen freizuhalten und will auch mich evakuieren. Sie schreien ohne Megaphone bis die Stimme heiser ist. Es stehen Busse bereit, um die Menschen nach Uptown in Sicherheit zu bringen. Ich laufe in die Seitenstrassen und presse mir ein Taschentuch auf die Nase.

Alle sind sehr freundlich. Vor den Kirchen und Heilsarmeen werden Wasserflaschen und Äpfel verteilt, die Telefone in ganz Manhattan sind kostenlos. Vor jeder Zelle steht eine lange Schlange, sie telefonieren in den verschiedensten Sprachen, um zu erklären, dass es ihnen gut geht, und zu fragen, ob jemand vermisst wird.
     Vor mir läuft ein Mann, der mit seinem Sohn telefoniert. Sein Sohn war heute Morgen eine Viertelstunde zu spät zur Arbeit gefahren und steckte noch im Fahrstuhl, als das erste Flugzeug einschlug, so konnte er entkommen. Andere haben aus den Büros angerufen, aus den Treppenhäusern, um zu sagen, dass sie sich wieder melden, wenn sie unten sind. Meist waren die letzten Worte: »Ich liebe dich.« Wer in den obersten Stockwerken gestartet ist, brauchte länger als eine Stunde, um über die Treppen aus den Türmen zu kommen. Um 9.50 Uhr ist der Südtower zusammengebrochen, vierzig Minuten später implodiert der Nordtower.

Die Bilder werden immer und immer wieder gezeigt. Es sieht aus wie eine perfekte Sprengung, erschreckend professionell. Die Türme sacken gerade herunter und werden einfach zu dickem Staub. Die Asche weht inzwischen bis zum Wasser und nach Brooklyn herüber. Auf der Canal Street downtown zieht eine Prozession von Menschen Richtung Brooklyn Bridge. Zu Fuß überqueren sie die Brücke, um sich evakuieren zu lassen. Polizisten bringen Schulkinder hinüber. Es sind die Kinder, deren Eltern nicht gekommen sind, um sie abzuholen. Der Menschenstrom reißt nicht ab, doch alle sind sehr diszipliniert.
     Beamte schmeißen jede stinkende Mülltonne um, um nach Bomben zu suchen. Sie schauen in Zeitungskästen und unter Autos.

Am Ende der Straße, am Chelsea Piers, kommen die ersten Bulldozer angerollt. Junge Männer wollen sich als Freiwillige melden, um Überlebende aus den Trümmern zu ziehen, aber jetzt beginnen auch die kleinen Türme des Trade Centers zusammenzubrechen. Blut soll gespendet werden. Auch da sind die Schlangen der Freiwilligen lang, die Blutbeutel gehen nach einigen Stunden aus. Jeder will helfen. Doch das viele Blut wird niemand brauchen.
     Um Augenzeugen sammeln sich Zuhörer wie um Straßenprediger. »It was so close. I almost touched the fucking plane!«

Ich treffe mich mit Jens am Krankenhaus. Er hat Brandwunden gereinigt und Spritzen gegeben. Doch nach den ersten Einlieferungen am Morgen ist niemand mehr gebracht worden. In seinem Arztkittel bekommt er jetzt alles umsonst, Fremde klopfen ihm auf die Schulter. Geschäfte helfen mit Sandwiches und Getränken. Wir trinken einen Kaffee auf den Stufen eines Hauseinganges in einer Seitenstrasse. Ein Ehepaar mit Hund geht vorbei. Der Hund kackt aufs Trottoir, die Frau nimmt ein Tuch und sammelt es auf. Der Mann grinst uns an.
     »You should do this!« scherzen wir. Er meint, ihm wird beim Geruch von Hundescheiße schlecht. Beide grüßen und gehen weiter.
     Jens erzählt, dass er eben untätig in der Notaufnahme herumstand, als Rudolph Giuliani kam und ihm die Hand drückte: »Good job.«

Am World Trade Center werden die ersten Suchhunde eingesetzt. Sie reagieren auf Fleischgeruch und sind schnell überfordert. Alles stinkt nach Fleisch. Hauptsächlich finden die Helfer Arme und Beine, mit einer grauen Schicht überzogen. Und Matsch, dunklen Matsch.
     Jens geht wieder ins Krankenhaus, ich versuche, nach Hause zu kommen. Die Busse fahren selten, aber sind nun auch umsonst. Die Straßen oberhalb des Katastrophengebiets sind plötzlich leer und ruhig. Alle Läden sind zu, sogar McDonalds. Auf den verlassenen riesigen Kreuzungen bleiben immer wieder Passanten stehen und starren auf die Rauchwolke. Und auf den Platz, an dem das World Trade Center fehlt.

Eine alte Frau neben mir im Bus freut sich, dass sie heute nichts bezahlen muss und wünscht mir noch einen weiteren aufregenden Aufenthalt in der Stadt. Sie meint, ich wäre lucky. Der weltgrößte Terroranschlag, und ich bin dabei.

Im Apartment gucke ich mit Kristina und Juan Nachrichten. Der Fernseher hat nur ein Programm, es ist kaum etwas zu erkennen. Es läuft die Rede des Präsidenten. In meiner Lieblingsstelle zitiert er die Bibel: »I was walking through the valley of death ...« und fügt natürlich hinzu: »God bless America«. Wir stöhnen. Er droht, zurückzuschlagen, und zwar mächtig, bloß auf wen, das sagt er nicht. Hauptsache Krieg. Bush schauspielert ein besorgtes Gesicht über dieser Rede, die ihm jemand anderes geschrieben hat. Am Anfang versucht er sogar ein trockenes Schlucken von Tränen. Vermutlich ist es echt? In Amerika ist es schwer, Realität und Fernsehen auseinander zu halten. Besonders jetzt, wo Bilder wie aus einem Actionfilm real geworden sind und viele Helfer versuchen, sich so zu verhalten, wie sie es im Kino gesehen haben. Sie wollen anpacken, sie spucken alle paar Meter auf die Straße, ständig rotzen mir Männer vor die Füße, sie wollen in den Krieg ziehen. Der Verkauf von Handfeuerwaffen ist in die Höhe geschnellt. Karten von Afghanistan sind ausverkauft.
     Abends wird gemeldet, dass zwei Männer mit Sprengstoff in einem Wagen verhaftet wurden. Sie wollten angeblich die Kennedy Brücke sprengen. Wie viele dieser Terroristen gibt es, die bereitwillig ihr eigenes Leben opfern, um noch viel mehr Menschen umzubringen? Sie glauben, dass im Jenseits Horden von Jungfrauen auf sie warten, das habe ich gelesen, glauben sie das?

12. September

Heute rückt die Armee in die Stadt. Die meisten Läden sind geschlossen, nur nicht die für die Touristen, die wenig beeindruckt sind. Es ist fast ekelhafter, uptown zu sein, wo Frauen mit leuchtenden Augen shoppen gehen, als unten vor dem Schutthaufen zu stehen.
     Doch auf vielen Tafeln der Restaurants steht anstelle des Tagesgerichtes: »Pray for our nation«.

Es sind mehr Verrückte unterwegs als sonst, tief verwickelt in Selbstgespräche über das Ende der Welt. Ein Amerikaner schimpft mit mir wegen Hitler und erklärt, dass Amerika seiner Meinung nach ruhig den Rest der Welt in Schutt und Asche legen kann. »Nuke them all.« Er sagt, ich werde schon sehen. Wir werden uns alle noch umgucken. Wir werden alle schon sehen.

Abends wurden Kerzen angezündet. Fotografen haben sich auf weinende Frauen gestürzt, doch niemand hat sich beschwert. Junge Leute haben Plakate auf das Pflaster gelegt, die mit Bitten, mit Bildern, mit Gebeten und Aufrufen zum Frieden und zur Rache bemalt werden. Zwei New Yorkerinnen griechischer Herkunft halten ein Banner hoch, auf dem sie bitten, eine eMail an George Bush zu schreiben, um einen Krieg zu verhindern: President@whitehouse.gov.

Die Stadt ist voller Amerikaflaggen. »God loves you all«. Was wohl wäre, wenn Amerika keinen Gott hätte?

13. September

Ich sitze zwischen den Finanzhochhäusern an der 6th Avenue in einem Park und lese die Times, als die zahlreichen Bombendrohungen auch die zwei Gebäude neben mir erfassen. Die Polizei ist sehr vorsichtig. Die Banker werden evakuiert und sitzen jetzt auch im Park herum. Ganze Firmenbelegschaften beraten sich. Nach Hause? Essen? Da kommt eine Panik auf, die etwa 10 Sekunden dauert. Alle springen von ihren Stühlen auf und laufen durch den Park. Dann drehen sie sich und starren auf eines der Hochhäuser. Ich auch.
     Danach setzen sie sich wieder oder gehen heim. Es braucht sehr viel, um New Yorker aus der Ruhe zu bringen. Darauf sind sie stolz. Trotzdem zittern einige Hände, die ihren Kaffeebecher halten.
     Ich habe nichts zu tun, weil mein Praktikum vorerst hinfällig ist. Alle sind bei ihren Familien. Also laufe ich durch die Stadt und gucke ich mir die Katastrophe an. Das Elend hat eine große Anziehungskraft, vielleicht weil die Menschen plötzlich menschlicher sind. Nur im Ausnahmezustand, nur, wenn der Alltag Risse kriegt.

Vor dem St. Vincents Hospital stehen Fernsehübertragungswagen, die über und über mit Suchmeldungen bedeckt sind. So wie jede Ampel, jeder Sicherungskasten und die Telefonzellen. »Have you seen this man, have you seen this woman, we love her, we love her so much, please.« Und die Staubschicht, die auf den Feuerwehrwagen, die durch die gesperrten Straßen rasen, klebt, ist von gemalten Flaggen und Worten überzogen: »God loves you all«, »Thank you, guys!«, »You are heroes.« Amerikanische Flaggen sind ausverkauft.

Am Union Square versammeln sich abends wieder Leute, die diesmal »Give peace a chance« singen. Sie halten Kerzen, und Jens, der im Arztkittel vorbeikommt, wird umarmt. Einige Blutspender tragen stolz ihre T-Shirts: American Red Cross Blood Donor. Sie kriegen Rabatte in den meisten Geschäften. Jens bekommt weiterhin alles umsonst: Lachsbrötchen mit Zitronenscheibchen zwischen den Trümmern.

»Attack on America« ist das neü Logo der Fernsehkanäle. Sie zeigen schon die Best-of-Zusammenschnitte. Das Trade Center aus den verschiedensten Perspektiven, fokussiert von Amateurvideokameras, als überraschend das zweite Flugzeug einschlägt. Frauen im Off kreischen. »Holy F...!« ruft ein Mann, sein Ausruf ist mit einem Piepton überblendet. CBS2 zeigt den halben Tag tränenreiche Kurzauftritte von Familien, die Fotos ihrer loved ones in die Kamera halten. Schnell wird daraufgezoomt. »He is a good man. He is a good father. He is a good guy. If you have seen him, please call this number!« Die Telefonnummern sind unleserlich und auch nicht wichtig.
     Kristina kommt im Arztkittel ins Wohnzimmer, die Atemschutzmaske baumelt ihr um den Hals. Sie wirft nur einen kurzen Blick auf den Fernseher: »They are all dead.« sagt sie.
     «We have so much hope and strength«, beteuert die Moderatorin, die mehrmals wiederholt, dass sie heute früh eine Träne geweint hat. Eine echte.
     Aus den Trümmern wurden heute nur Helfer geborgen, die gestern hereingefallen sind. Kristina arbeitet jetzt in der abgesperrten Zone, im ground zero, und wäscht Feuerwehrleuten die Augen aus. Sie geht ins Badezimmer und reißt sich den grünen Kittel herunter. Als sie sich die Haare wäscht, gurgelt das Wasser grau in den Abfluss. Sie hat ihr Handy verloren, als eines der an das Trade Center grenzenden Gebäude zusammengesackt ist, mit ihrer Tasche darunter. Alle rannten kurz um ihr Leben.
     Die Finanzruinen sind voller Elektroschrott, der blinkt und flackert. Trübe durch den Staub leuchtende Computerbildschirme in einer Hotellobby, Fahrstuhltüren, die sich ununterbrochen öffnen und schließen, weil menschliche Überreste und Gebäudeteile dazwischenklemmen, Kontrollmonitore, die niemanden mehr vor Feuer warnen.

In den rauchenden Ruinen breitet sich schnell eine neue Organisation aus. Pappschilder mit handgemalten Pfeilen weisen den Weg: morgue, toilets ... An den Toiletten sind Zettel angeklebt für men und women.
     Die Feuerwehrleute entschuldigen sich bei den Ärztinnen, das alles so dreckig ist. An einem zerstörten McDonalds steht mit Spraydose geschrieben: NYPD Headquarters. Hier hat sich das Police Department eingerichtet. Im improvisierten Leichenschauhaus liegen keine Leichen, nur Körperteile. Zwei unheimlich dicke, schwarze Männer ziehen sie aus Plastiksäcken und sortieren die graue Masse. Jeder Finger soll möglichst identifiziert werden. Die meisten sind dazu nicht mehr tauglich. An den Kliniken müssen die Angehörigen seitenlange Formulare ausfüllen, um die Vermissten exakt zu beschreiben. Wie sehen die Finger ihres Mannes aus: Ehering? Nikotingelbe Haut? Tätowierungen?
     Morgen kommt Bush in die Stadt.

14. September

In der Nacht schlugen die Gewitterblitze ein, dass uns ganz mulmig wurde. Es regnet den ganzen Vormittag.
     Jens hat sich den Wecker auf viertel vor 7 gestellt und steht um zwölf Uhr mittags auf. Wir sind ein Apartment höher gezogen, weil es leer steht, und haben nun keinen Fernseher mehr, nur ein Radio. Es läuft die Übertragung der Gedenkfeier aus Washington. Am Brandenburger Tor sollen angeblich 250.000 Menschen stehen. Es ist zum Heulen. Wenn die amerikanischen Fernsehstationen Bilder von der Solidarität zeigen würden, die das Land aus der ganzen Welt erhält, dann dächten die Amis nicht, es ginge in diesem Kampf um die USA gegen den Rest der Welt. Amerika schottet sich ab. Der Feind bleibt unsichtbar.
     Downtown läuft der Handel mit New York-T-Shirts außerordentlich gut. Flaggen wurden in Massen nachgeliefert. Es gibt schon Shirts mit Fotos der explodierenden Towers darauf. Ein Text besagt: »I can't believe I got out«. Jugendliche kaufen sich aufblasbare Baseballschläger mit Stars and Stripes-Aufdruck. Manche finden es schick, ihre Atemmaske zu tragen, obwohl keine Gefahr mehr besteht.

Jens arbeitet jetzt auch im ground zero. Er musste amerikanischen Korrespondenten von SAT1 und RTL Interviews geben. Sie wollten von ihm hören, dass sich sein Leben verändert hat, dass er sich als Held fühlt, und das die Feinde Amerikas von Grund auf böse sind. Den Gefallen hat er ihnen nicht getan. Er kommt in die MAX und macht sich Gedanken, wie seine Frisur auf dem Foto aussieht: »Ich sah am Dienstag so scheiße aus!«

15. September

Ich höre den Vormittag über Radio. Eine Moderatorin spricht mit Anrufern über die Katastrophe. Es geht hauptsächlich um einen Artikel in der New York Post, der das, was geschehen ist, als Strafe Gottes beschreibt. Schuld seien die vielen Sünder, die es gibt: Ungläubige, Ausländer, Lesben und Schwule. Araber werden jetzt auf den Straßen schief angesehen, einige werden beschimpft, mit Baseballschlägern gejagt, jemand wurde erschossen. Aber nicht von New Yorkern, der meiste Hass bleibt außerhalb.

Bush verkündet, er wolle gegen »das Böse« in der Welt Krieg führen. Für viele Menschen ist Amerika Teil des Bösen. Was meint Mohammed Atta? Er ist bei den Jungfrauen.
     Am Union Square ist inzwischen ein Meer aus Kerzen, Blumen, Flaggen und Fotos gewachsen. New Yorker schreiben mit farbiger Kreide auf den Boden. Der Kreis aus Botschaften wächst, die Umstehenden weichen immer weiter zurück, weil sie nicht auf die Schrift treten wollen. Ein junger Japaner nimmt ein Stück Kreide: »You don't know the pain until it reaches you.«
     Ich denke, sie werden auch diese Anschläge verfilmen, es ist nur eine Frage der Zeit. Und sie brauchen ein Happy-End. Das ist ein Problem.

Wir sollten heute Besuch aus Boston von zwei deutschen Freundinnen bekommen, aber sie haben abgesagt. »Aus Pietätsgründen« und auf Druck ihrer Eltern, sagen sie. Das ärgert uns, denn wir fühlen uns fast schon wieder sicher in der Stadt. Das Leben hat sich normalisiert, wenn man nicht richtig hinsieht.

Dann gehen wir runter und besuchen Kristina, die schon den ganzen Tag auf dem Sofa liegt und in das grieselige Fernsehbild starrt. »I'm totally freaked out!« sagt sie. Erst hat sie erfahren, dass ihre Nachbarin tot ist. Jetzt sieht sie Berichte über chemische Kampfstoffe und Atomwaffen, die in den Händen von Terroristen befürchtet werden. Atomwaffen aus Pakistan zum Beispiel. Mir wird kurz schlecht, obwohl der Gedanke sehr unwahrscheinlich ist. Aber es war auch unwahrscheinlich, dass zwei Flugzeuge präzise und ungehindert in das World Trade Center krachen.
     Juan kommt nach Hause, und Kristina wiederholt: »I can't believe that girl is dead!« Juan meint nur: »She's not gonna be the only one you know.«

16. September

Heute ist alles ruhig. Im ground zero ist niemand mehr, der lebend geborgen werden kann. Die evakuierten Bewohner werden kurz in ihre Wohnungen gelassen, um ihre Haustiere abzuholen. All die Hunde und Katzen, die seit Dienstag in den verstaubten Apartments gefangen sind.
     Die Medien wiederholen wie ein Mantra: »Everything is going back to normal.« Der Alltag soll beruhigen. Ich gehe im Central Park spazieren, die Sonne scheint.
     Bloß nicht Fernsehen.

17. September

Ich laufe zu Fuß zu der Filmfirma, in der ich mein Praktikum machen wollte. Unpassenderweise produzieren sie Horrorfilme. Die Büros sind mit Gliedmassen aus Gummi voll gestopft, abgerissene Köpfe, Torsi, Monster. »Hey, welcome to hell!« begrüßen sie mich. Die Stimmung ist etwas gedrückt, alle starren wieder in ihre Computer. Der Zombiefilm, der gedreht werden sollte, wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.
     Auf meinem Rückweg nach Hause gehe ich an einer der Feuerwehrwachen vorbei. Sie alle sind mit Blumen und Fotos geschmückt. Kinderzeichnungen zeigen die brennenden Twin Towers. Und manchmal Superman, der die Flugzeuge am Himmel zerschlägt. Und manchmal Papa, der groß und stark in seiner Uniform vor einem Feuer steht. Und brennt.

Am Times Square steht ein Mann im ewigen Strom der New Yorker und Touristen, und er hält die Bibel hoch. Auf dem Schild in seiner ausgestreckten anderen Hand steht: »The end is at hand.«
     Wenn das so einfach wäre.

Sonja Schultz

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