Foto von Ulrich Struve Besuch im Kaiser-Panorama
Eine Ausstellung in Berlin
Notizen am Rande - Buchbesprechungen von Ulrich Struve

»Meine Lebensaufgabe … war es, das sehenswerteste der Erde stereoskopisch aufnehmen zu lassen, in geordneten Reise- und Städte-Zyklen vorzuführen und durch einen möglichst niedrigen Eintrittspreis den Schulkindern und der großen Menge der Bevölkerung, allen Kindern unbemittelter Eltern und Waisen aber unentgeltlich, zugänglich zu machen.« Der Berliner Fotograf August Fuhrmann, der sich in diesem Zitat von 1909 so bildungsbeflissen und wohltätig gibt, war der Inhaber und geschäftstüchtige Impresario des Kaiser-Panoramas. Das Panorama war eine Art Vorläufer der Wochenschau und des Imax-Kinos. Es erfreute sich vor dem Durchbruch des Kinos großer Beliebtheit und vermag auch heutige Betrachter in seinen Bann zu ziehen.
     Rund 250 Filialen belieferte Fuhrmann von der Berliner Zentrale aus mit Bilderfolgen, die das zahlende Publikum »in einer zauberhaften Plastik und Perspektive« (Fuhrmann) in Augenschein nehmen konnte. Der Vertrieb im Ringverleih - heute noch beim Kino üblich - ermöglichte eine wirtschaftlich organisierte Form der Masseninformation und -unterhaltung. Je 50 stereoskopische Fotos wurden zu einer Serie zusammengefasst. Tagesaktuelle Ereignisse inklusive Kriegsberichterstattung wurden ebenso abgedeckt wie Natur- und Kulturthemen nach dem Motto »Buntes aus aller Herren Länder« - solange die Perspektive patriotisch und dem Geist des wilhelminischen Kolonial-Abenteuers dienlich war.
     In den 70er-Jahren konnte Erhard Senf 12.000 Glasfotos aus Fuhrmanns Archiv erwerben.  Diese Sammlung bildet den Fundus, mit dessen Hilfe Bienert und Senf heutigen Betrachtern einen Besuch im rekonstruierten Kaiser-Panorama ermöglichen.  Berlin wird Metropole, das vom be.bra verlag sorgfältig aufgemachte Buch und die Ausstellung in Kreuzberg, konzentrieren sich dabei auf Berlin, seinen Verwandlungsprozess in eine Weltstadt und die damit einhergehenden Selbstinszenierungen.
     Thematisch gruppiert stellen die Autoren Szenen aus dem Berliner Alltagsleben und Sonntagsvergnügungen vor. Preußisches Erbe und die Imponierbauten der Kaiserzeit, an denen die Inszenierungsleistungen Wilhelms I. deutlich werden, sind beliebte und eindrucksvolle Panorama-Motive. Den Aufbruch in die Moderne halten Bilderfolgen zur Luftfahrt fest. Arbeiter und Industrieanlagen tauchen im Sucher der stereoskopischen Kameras allerdings kaum auf - ebenso wenig wie schlechtes Wetter. In Fuhrmanns Panorama ist immer Kaiserwetter! Umso aufschlussreicher ist es, wenn dieses Muster durchbrochen wird.
     Der 10. Dezember 1918 ist ein verhangener Tag, schwer liegt der Nebel in den Straßen der Stadt. Und so findet die Rückkehr der geschlagenen Truppen notgedrungen unter grauem Himmel statt. Dem kaisertreuen Fuhrmann wird es recht gewesen sein, dass Friedrich Ebert für sein Grußwort an die Soldaten kein Kaiserwetter hatte.  Der Kontrast zum Sedantag vier Jahre zuvor spricht Bände. Unter strahlendem Himmel waren im September 1914 die ersten in Belgien eroberten Geschütze zur Parade aufgefahren worden. Die Kriegsbegeisterung war noch ungebrochen, ein rasches und siegreiches Ende des Krieges schien möglich. Der zermürbende Stellungskrieg hatte zu dieser Zeit noch nicht begonnen.
     Die Bildkommentare Bienerts verraten die Sicht des versierten Stadtführers, der für kulturhistorische und bauliche Zusammenhänge gleichermaßen sensibilisiert ist und anhand des Bildmaterials auf historische Sichtachsen und stadtplanerisches Kalkül aufmerksam machen kann. Berlin wird Metropole weist Michael Bienert, dessen Joseph Roth-Anthologie ich hier schon einmal vorgestellt habe, erneut als einen belesenen Verfasser klarer, von kühlem Understatement getragener Prosa aus. Die langjährige Arbeit bei Stattreisen hat sich in Bienerts publizistischer Produktion positiv niedergeschlagen. Auch sein Brecht-Führer und der im vergangenen Jahr erschienene Band Berlin: Wege durch den Text der Stadt, der zu literarischen Stadtspaziergängen verführen will, sind Musterbeispiele des Genres literarischer Stadtführer. Sie sind sowohl als praktische Reisebegleiter als auch für die Lektüre im Ohrensessel geeignet. Der Autor hält gekonnt die Balance zwischen pragmatischen Ratschlägen, Zitaten kompletter Gedichte, referierenden Passagen und ausschweifenden Randbemerkungen zum kulturellen und politischen Leben der Stadt. Bienerts Bücher sind ein Lesevergnügen für jeden, der sich für Berlin interessiert.

Ulrich Struve

Michael Bienert / Erhard Senf. Berlin wird Metropole: Fotografien aus dem Kaiser-Panorama. Berlin-Brandenburg: be.bra verlag, 2000. 144 Seiten, geb., 78 DM/39,88 EUR (Preisangabe ohne Gewähr).  ISBN 3-930863-64-2.

Berlin wird Metropole: 3D-Photographien der Jahrhundertwende.  Kreuzberg Museum / Adalbertstraße 95a / 10999 Berlin / Tel. (030) 2588 6233 / U-Bahnhof Kottbusser Tor. Die Ausstellung hatte bis zum 16. April von Mittwoch bis Sonntag, von 12 bis 18 Uhr geöffnet.

Michael Bienert. Mit Brecht durch Berlin: Ein literarischer Reiseführer. Frankfurt a.M.: Insel, 1998. 271 Seiten, Taschenbuch, 17,80 DM/9,10 EUR (Preisangabe ohne Gewähr). ISBN 3-458-33869-1. ~ Mit vielen Fotografien illustriert. 

Michael Bienert. Berlin: Wege durch den Text der Stadt. Stuttgart: Klett-Cotta, 1999. 227 Seiten, geb., 36 DM/18,41 EUR (Preisangabe ohne Gewähr). ISBN 3-608-91967-8. ~ Bietet zehn leicht nachvollziehbare literarische Stadtspaziergänge auf den Spuren von Brecht, Benn, Jünger, Kästner und Ringelnatz bis zu Gegenwartsautorinnen und -autoren.


zurückAnfangweiter