»Anfangserscheinungen und Kinderkrankheiten«

Interview mit Dr. Hermann Rotermund über den »Zeit«-Literaturpreis '97 und die Lage der Netzliteratur

Dr. Hermann Rotermund ist Literaturwissenschaftler und Projektleiter des ARD Online-Kanals. Er war 1997 Mitglied der Jury des zweiten Internet-Literaturpreises der Wochenzeitung »Die Zeit«, der am 29. September 1997 in Hamburg offiziell verliehen wurde. Seine Laudatio auf die Preisträger ist in der »Zeit« vom 2. Oktober 1997 nachzulesen.
    Mit Hermann Rotermund sprach Wolfgang Tischer.


Literatur-Café: Herr Rotermund, der zweite Internet-Literaturpreis ist nun offiziell verliehen. Es gab - wie im letzten Jahr - Kritik am Wettbewerb und an der Juryentscheidung - aber auch Zustimmung. Wie ist denn Ihr ganz persönliches Resümee? Hat es Spaß gemacht? Wären Sie im nächsten Jahr wieder dabei, wenn die »Zeit« Sie fragen würde?

Hermann RotermundRotermund: Die Erfahrungen in der Jury beziehen sich ja auch auf die Vorbereitung, auf die Diskussion, die wir in Hamburg hatten und auch auf die Überlegungen danach. Ich habe mir eigentlich erst danach die Net-Literatur Mailing-List angesehen und auch die Beiträge im Diskussionsforum. Das war schon anregend. Ich würde gerne weiter mitdiskutieren und auch meine eigenen Kriterien schärfen. Es gibt eigentlich noch keine Sprache, mit der sich Internet-Literatur behandeln lässt. Es gibt keine literaturwissenschaftlichen Kategorien, die einen Kanon bilden, mit dem man die spezifischen Dinge der Netzliteratur bewerten kann. Den müssen wir sozusagen gemeinsam entwickeln. Weniger die, die diese Literatur produzieren, als die, die sie lesen, die sich damit beschäftigen und die für sich beanspruchen, sie kritisch zu bewerten. Daran bin ich sehr interessiert und würde hier auch weitermachen. Ich bin in diesen Prozess eingestiegen und würde auch im nächsten Jahr wieder gerne dabei sein, wenn mich die Organisatoren des Wettbewerbs fragen würden.

Literatur-Café: Wird sich die Web-Literatur jemals zu einer Ernst zu nehmenden Literaturform entwickeln oder wird sie größtenteils Pennälerlyrik bleiben, wie es Herr Schütz, ebenfalls Mitglied der Jury, sehr überspitzt formuliert hat?

Rotermund: Das hoffentlich nicht und - das ist jetzt Ernst gemeint - auch das andere hoffentlich nicht. Ich hoffe, dass man einen anderen Begriff dafür findet, als den der »Literatur«, dass also ein neuer Name dafür entsteht, für den die traditionellen Kriterien auch nicht mehr passen können, wenn es ernsthafte Anstrengungen gibt, sich von den multimedialen Wirklichkeiten des Mediums beeindrucken zu lassen. Wenn Autoren - oder nennen wir sie besser Produzenten - die Bedingungen, wie sie arbeiten, auch selbst hinterfragen und dies nicht nur auf der technischen Höhe der Zeit tun, sondern auch unter Einbeziehung der ästhetischen Kategorien, die ja eine jahrhundertealte Tradition haben, wenn diese Produzenten also auch ein wenig Medientheoretiker werden, dann wird sich automatisch etwas ändern. Ich finde jetzt häufiger im Netz Beispiele, die in diese Richtung weisen. Das sind Kompositionsformen mit Text, mit Bild, Bewegung, Programmierung, die neue Strukturen schaffen und Erlebnisse und Erfahrungen bringen, die man nicht mit den herkömmlichen Literaturbegriffen erfassen kann.
     Es gibt derzeit eine Art Selbstzufriedenheit mit dem gerade Erreichten. Das hat mich ein bisschen gewundert. Gerade die aktuellen Netzliteraten müssen mit sich und auch mit den Kollegen kritischer umgehen. Es herrscht so eine allgemeine Kritiklosigkeit und Kritikfurcht vor. Man möchte dem Kollegen kein negatives Urteil auflasten, weil man offensichtlich meint, man arbeitet gemeinsam an einem zarten Pflänzlein, das sterben könnte, wenn man da ein falsches Wort sagt. Das ist sicherlich nicht die richtige Herangehensweise.

Literatur-Café: Sie sehen also keinen Anlass zur Web-Depression, insbesondere hinsichtlich der Netzliteratur?

Rotermund: Nein, überhaupt nicht. Das sind alles Anfangserscheinungen und Kinderkrankheiten. Es wird bestimmt noch eine ganze Reihe von Jahren dauern, bis die Netzliteratur ihren Weg findet. Es wird mehr Irrwege als Erfolg versprechende Wege geben - auch in Bezug auf die Techniken.
     Ich glaube, dass die Anstrengungen, die außerhalb des Literaturwettbewerbes stattfinden, eher Erfolg versprechender sind, als das, was unter den Stressbedingungen des Wettbewerbs entsteht, denen sich die Teilnehmer des Wettbewerbes auch selbst aussetzen. Man erlebt außerhalb des Wettbewerbes sozusagen in aller Ruhe produzierte Dinge, die radikaler und brillanter sind als die Wettbewerbsbeiträge. Vielleicht sollte also zukünftig im Wettbewerb mehr Augenmerk auf solche längerfristigen Projekte gelegt werden, es also Auszeichnungen nicht nur für speziell eingereichte Beiträge geben. Das würde auch die Diskussion ertragreicher machen, als dieses »Wie habe ich mich angestrengt und mein Werk eingereicht. Nun fällt der Hammer und es wird bewertet«. So sehe ich literarisches Schaffen ohnehin nicht.

Literatur-Café: Herr Rotermund, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!

August 1997

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