Juristische Reden in der Provinz

Wer liest fast schon auf dem Lande juristische Reden des 19. und 20. Jahhunderts vor? Und wer hört sich sowas auch noch an?

Was Wann Wo? Uhren- Industriemuseum Theaterraum im Uhrwerk Herbert Müller liest Deutsche Reden Herbert Müller liestÜber Pfingsten in der Provinz. Schwarzwald-Baar Kreis. Auf der Seite »Was Wann Wo?« der Neckarquelle lese ich den Hägar Comic; der Blick geht höher, Rubrik »Theater«: Lesung: Juristische Reden des 19. und 20. Jahrhunderts, 20.00, Uhrwerk, Uhrenindustriemuseum. Klingt nicht sehr spannend. Aber wer liest dort politische Reden? Und wer geht in Schwenningen zu solch einer Veranstaltung? Vielleicht fänden sich ein paar Leute in einer Großstadt - aber hier? Es ist 19 Uhr 30, die Veranstaltung beginnt in einer halben Stunde. Das ist machbar.
     Der Backsteinbau des Uhrenmuseums sieht verlassen aus. Es ist kühl geworden. Niemand zu sehen. Das Uhrwerk befinde sich auf der Rückseite des  Gebäudes, ist an der geschlossenen Eingangstür zu lesen. Also um das Gebäude rum. Im Hof ein flacher Bau, zum Eingang geht es einige Stufen hinunter. Dort sind die Räumlichkeiten eines kleinen Cafés. Eine Wand ist aus Glas. Hinter einer Tür führt eine Wendeltreppe weiter nach unten, in den Raum des ehemaligen Kesselraums der Uhrenfabrik Bürk. Er wurde zum kleinen Bühnenraum umgebaut. Violett-roter Teppichboden, grüne Sitzkissen auf den wenigen Stühlen. Vorne auf der verwinkelten Bühne stehen Barhocker und Textständer. Es ist eine Spielstätte des Carl-Theaters, ein privates Theater, welches noch nicht lange existiert, gegründet im Jahre 2000. Ganz schön mutig in den Zeiten der Spaßgesellschaft. Und dann noch juristische Reden, der vierte und letzte Abend einer Reihe. Neun Personen sind gekommen. Beim letzen Mal seien es zunächst nur zwei gewesen, erzählt einer der Anwesenden. Der Künstler wollte den Abend bereits ausfallen lassen, da kam noch jemand und die Lesung wurde gehalten. Es liest der Intendant des Theaters, Herbert Müller.
     Der kommt dann auch um fünf nach acht hinter dem schwarzen seitlichen Vorhang hervor, begrüßt mit einem freundlichen Lächeln das Publikum, setzt sich auf den Barhocker und beginnt mit der Rede vor den Kölner Geschworenen von Karl Marx, der im Jahre 1848 der Rebellion angeklagt war (Der Prozess endete mit Freispruch).
     Müllers kurze Einführung reicht nicht ganz, um die Rede in ihrem Zusammenhang genau zu verstehen, sofern man die Geschichte des 19. Jahrhunderts nicht genau kennt. So ist Gelegenheit, Müllers Vortragsstil zu beobachten. Müller liest die Worte klar und mit angenehmer Betonung. Er moduliert die Lautstärke, sein Blick richtet sich nur selten ins Publikum, bleibt fast immer beim Text, ob gewollt oder nicht, ist schwer zu sagen. Kurzzeitig liest er während der Marx-Rede mit Gesten, dann nimmt er sich wieder zurück, und die Hände bleiben am Pult. Es hat den Eindruck, als erinnere er sich daran, die Reden nicht halten zu müssen. Das ist gut so. Müllers Vortragsstil ist passend. Er versucht nicht, den Sprachduktus der jeweiligen Zeit oder der Rednerinnen und Redner nachzuahmen, er setzt auf die Inhalte. Die Einleitungen bleiben knapp, auch zur Anklage und Verteidigungsrede des Prozesses gegen Rosa Luxemburg (»Aufwiegelung der Massen zum Ungehorsam gegen die Obrigkeit« - ein Jahr Gefängnisstrafe).
     Carl von Ossietzky, der Herausgeber der Weltbühne, stand 1931 vor Gericht. Es ging um einen Artikel in seiner Zeitschrift, den nicht er, sondern Kurt Tucholsky verfasst hatte. Darin ist der Satz zu lesen »Soldaten sind Mörder«. Es ist aberwitzig, dass das selbe Zitat und die Frage nach der Meinungsfreiheit in den neunziger Jahren wieder verhandelt wurde. So hat die Rede plötzlich einen aktuellen Bezug und man hört die Worte Ossietzkys mit Interesse. Er wurde frei gesprochen.
     Nach welchen Kriterien Müller die Texte auswählte, wird nicht ganz deutlich, und die Zuhörer sind gefragt, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Nur nach dem Lesen des Schlussworts des Reichsjustizkommissars Hans Frank bei den Nürnberger Prozesse atmet Müller hörbar aus, als wolle er sich deutlich vom Gesagten distanzieren. Frank bezeichnet Hitlers Weg als falsch, betrachtet aber die begangenen Grausamkeiten in gewisser Weise als erledigt, denn schließlich sei durch den Feind auch dem deutschen Volk viel Leid angetan worden.
     Es offenbart sich mehr und mehr die Gefährlichkeit der Reden. Die Gefahr der Zustimmung, wüsste man es nicht besser. Noch deutlicher wird dies bei der letzten vorgetragenen Rede des Abend, die aus den neunziger Jahren des letzen Jahrhunderts stammt: Die Verteidigungsrede des ehemaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker, der sich 1992, bereits todkrank, wegen der tödlichen Schüsse an der Mauer verantworten musste. Honecker nutzt diese letzte Gelegenheit, um nochmals das Bild der DDR zu glorifizieren, die schließlich von vielen Staaten anerkannt war, und um mit der »Siegerjustiz« der BRD abzurechnen. Eine ausgezeichnete Rede, der man in vielen Punkten tatsächlich nicht widersprechen kann, wenn er z.B. feststellt, dass die Nachkriegsjustiz nicht dazu fähig war, über die Nazis zu richten, da ihre Reihen selbst noch voll von ihnen waren und man nicht über sich selbst richten konnte. Was damals versäumt wurde, wird heute wieder einmal an den Kommunisten nachgeholt. Gorbatschow wird Ehrenbürger von Berlin, ihm, Honecker, wird der Prozess gemacht. Auf wen nur der Verdacht falle IM der Stasi gewesen zu sein, der wird nun durch die Medien denunziert. Wo ist der Unterschied? Man möchte dem Mann Recht geben - wüsste man es nicht besser.
     Müller klappt nach den Worten Honeckers das Buch zu und wünscht - nicht zynisch, wie er betont - frohe Pfingsten. Neun Leute hatten das Glück eine interessante Lesung gehört zu haben.

Wolfgang Tischer
02.06.2001


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